Kester Schlenz im Interview zu „Ich komm da nicht mehr mit"
Wie Informationsflut und digitale Überforderung uns in den Wahnsinn treiben – wenn wir es zulassen!
Lieber Herr Schlenz, wieso macht die Digitalisierung unser Leben schwerer statt leichter?
Natürlich ist es hilfreich, Navis zu haben, schnell was zu googeln oder sich auf You Tube Handwerker-Tipps zu holen. Aber da ist ja noch die andere Seite. Die Digitalisierung verlangt zunehmend auch was von uns, sie schlägt sozusagen zurück und kehrt als Gespenst wieder. Wir sollen und müssen nicht nur immer mehr wissen, sondern auch immer mehr können und selber machen: runterladen, bestätigen, eingeben, updaten, verifizieren. Die digitale Welt treibt uns in den Wahnsinn, anstatt uns zu entlasten.
Als Journalist ist es Ihr Beruf, informiert zu sein. Wann haben Sie gemerkt, dass Sie in der Informationsflut zu ertrinken drohen?
Ich saß eines Tages morgens in der Stern-Redaktionskonferenz. Die Kolleginnen und Kollegen der verschiedenen Ressorts trugen ihre Themen vor: Krisen, Kriege, Politik, Wirtschaft, Kultur, Medizin, Pop und Mode, Social Media-Trends, Klatsch, Bitcoins, BIP und Bad Banks – ich hörte das alles, aber ich merkte: Ich komm da nicht mehr mit. Ich durchdringe das nicht mehr. Es ist zu viel geworden!
Wie gehen Sie persönlich mit der Anforderung um, zu allem eine Haltung haben zu sollen?
Ich sage ab und an einfach mal die Wahrheit: „Sorry, Kollege, dazu kann ich nichts sagen. Ich muss mich da erst mal schlau machen.“
Wenn man den Tonfall in den Kommentarspalten oder gegenüber Service-Personal sieht, kann zu dem Eindruck kommen, dass die Menschen aggressiver geworden sind als früher. Woher kommt das?
Es ist eine Folge der Überforderung. Die Welt dreht sich immer schneller und fordert von uns allen immer mehr Flexibilität und Anpassung. Und das nicht mehr zu schaffen erzeugt ein Gefühl von Ohnmacht. Und Ohnmacht macht wütend. Ich bin sauer, dass ich nicht mehr mitkomme, mich defizitär fühle. Und richte meine Wut eben gegen die Menschen, denen ich begegne. Dabei vergessen wir aber, dass die anderen in unserer modernen Welt ja oft auch überfordert sind. Soziologen sprechen von „Veränderungs-Erschöpfung“. Es geht zu schnell. Wir können nicht mehr mithalten. Und denken: „Ach, lasst mich doch einfach alle in Ruhe“. Aber das sagen wir nicht. Weil ja nach außen hin alle so tun, als kämen sie noch mit.
Janne Lemke