Aktuelles | 06.09.2022 | Goldmann

"Grönland ist ein Ort voller Geheimnisse." - Interview mit Erica Ferencik

erica ferencik ein lied vom ende der welt

Eine abenteuerliche Reise führte Erica Ferencik an die Schauplätze ihres Romans "Ein Lied vom Ende der Welt".

erica ferencik ein lied vom ende der welt

Erica Ferencik mit Reisebegleiter*innen

Erica Ferencik über ihre Recherchereise in die Arktis und die Arbeit an ihrem Roman "Ein Lied vom Ende der Welt"

Mit Ein Lied vom Ende der Welt haben Sie einen Roman geschrieben, der an einem der atemberaubendsten, gefährlichsten und einsamsten Orte der Welt spielt: der Arktis. Wie sind Sie auf Grönland als Schauplatz für Ihren Roman gekommen?

Grönland ist ein Ort voller Geheimnisse. Furchteinflößende schwarze Berge ragen aus dem Meer und umschließen ein riesiges Eisschild, das über 80 % der grönländischen Landmasse ausmacht. Einige der grönländischen Ureinwohner halten dieses Eisschild, das an manchen Stellen schon über drei Millionen Jahre lang gefroren ist, für einen Ort, der von bösen Geistern bewohnt wird, und würden sich nie dort hinauswagen. Damit ist die Arktis genau die Art von abgelegenem, unwirtlichem Ort, die ich als Schauplatz für meine Geschichte brauchte. Eine Geschichte, in der die Figuren nicht nur einander, sondern auch ihre Umgebung überleben müssen.

Wie sind Sie auf die Idee für diesen Roman gekommen?

Die Idee für dieses Buch kam mir an einem verschneiten Wintermorgen. Ich ging im Wald spazieren und stieß auf drei Schildkröten, die eingefroren an einem Teichufer im Eis lagen. Sie sahen nicht lebendig aus ... aber auch nicht tot. Ich begann zu recherchieren und fand heraus, dass es einige Tiere gibt, die im Winter einfrieren und im Frühling dann wieder zum Leben erwachen können. Diese Lebewesen besitzen ein bestimmtes Kryo-Protein, das ihre Zellen vor dem Zerplatzen schützt. Ein Protein, das wir nicht besitzen. Dennoch kam mir das Bild eines jungen Mädchens in den Sinn, das in einem Gletscher in der Arktis eingefroren war. Von da an habe ich mich gefragt: Wie ist sie dorthin gekommen? Was könnte ihre Geschichte sein?

Die Darstellung der Arktis in Ein Lied vom Ende der Welt ist so authentisch, bildgewaltig und lebendig, dass man als Leser*in das Gefühl hat, direkt vor Ort zu sein. Wie haben Sie für diesen Roman recherchiert – sind Sie selbst in die Arktis gereist?

Nachdem ich mich für die Idee zu Ein Lied vom Ende der Welt entschieden hatte, las ich jedes Buch über Grönland und die Arktis, das ich in die Finger bekam, und sah mir jeden Film an, der in irgendeiner Form in der Arktis spielt. Über viele Monate hinweg habe ich dann an einem ersten Entwurf für meinen Roman gearbeitet. Denn ich breche erst dann zu einer Recherchereise auf, wenn ich meine Geschichte kenne und weiß, worauf ich mich vor Ort konzentrieren muss. Als der Entwurf stand, bin ich für mehrere Wochen in die Arktis gereist und habe zusammen mit anderen Arktis-Interessierten Land, Eis und Meer entlang der grönländischen Ostküste erkundet. Und auch wenn das albern klingt: Ich war überrascht, dass Grönland so groß ist und doch so wenig Menschen dort leben – und dass es dort keine Pinguine gibt.

Was fasziniert Sie als Autorin an einem Setting wie der Arktis?

Wie viele Romanautor*innen schreibe ich das, was ich selbst gerne lesen würde. Was meine Vorliebe für Geschichten, die sich um das Überleben drehen, angeht, könnte man sicherlich über tiefenpsychologische Gründe spekulieren. Lassen Sie es mich so sagen: Wie so viele andere habe ich eine extrem schwierige Kindheit durchgestanden, und daher kenne ich das Gefühl von Angst ziemlich genau und bin auch gut darin, Überlebensstrategien zu  entwickeln. Aber abgesehen davon liebe ich jede großartige Geschichte, egal wo sie spielt; allerdings habe ich eine Schwäche für Geschichten, bei denen der Schauplatz eine wichtige Rolle spielt.

Welche Erfahrung hat Sie auf Ihrer Reise in die Arktis am meisten geprägt?

Ich hatte die Gelegenheit, den Bürgermeister einer kleinen Stadt zu interviewen. Er war siebzig Jahre alt und wuchs in einer Lehmhütte auf, wie sie für Grönland bis vor nicht allzu langer Zeit üblich waren. Mittlerweile lebt er mit seiner Familie in einem einfachen Holzhaus mit fließendem Wasser und Strom, und ich fragte ihn, ob es nicht eine Erleichterung sei, nicht mehr in einer Lehmhütte halb unter der Erde zu leben. Seine Antwort verblüffte mich. Er sagte, dass er die Annehmlichkeiten des Holzhauses schätze, dass er aber die Nähe vermisse, die er verspürte, als er noch mit seinen Eltern und Geschwistern in der Lehmhütte lebte, während draußen über Monate Schneestürme tobten. Diese Erfahrung und Vertrautheit fehle ihm bis heute. Das hat mich sehr beeindruckt und berührt.

Wie haben Sie die Sprache entwickelt, die das Mädchen aus der Arktis spricht, und haben Sie selbst ein Faible für nordische Sprachen?

Ich liebe nordische Sprachen! Und um Najaas Sprache zu entwickeln, habe ich mir über einen langen Zeitraum die verschiedenen nordischen Sprachen wie Schwedisch, Dänisch, Isländisch und Grönländisch angehört, um ein Gefühl für Tonfall und Klang zu bekommen. Neben diesen lebenden Sprachen habe ich mich auch in die Sprache der Wikinger, Altnordisch, vertieft, um so eine Sprache zu entwickeln, die ähnlich, aber trotzdem anders als alle noch gesprochenen nordischen Sprachen klingt. Zusätzlich habe ich mich mit Sprachwissenschaftlern ausgetauscht, um herauszufinden, ob und wie es möglich ist, sich ohne eine gemeinsame Sprachbasis zu verständigen. Am wichtigsten ist dabei: Beide Personen müssen sich verstehen wollen. Daher machen Naaja und Valerie erst Fortschritte, als Valerie Naajas volles Vertrauen erlangt hat.

Die Figuren in Ein Lied vom Ende der Welt, allen voran Valerie, müssen sich im Laufe des Romans sowohl ihrer Vergangenheit als auch ihren Ängsten stellen. Wie sehr reizt Sie die psychologische Komponente des Romanschreibens?

Für mich ist die Figurenpsychologie das Wichtigste an einem Roman. Klar, die Leser*innen lieben actionreiche Szenen, aber die eigentliche Faszination steckt doch in der Frage: Warum tut die Figur dieses oder jenes, und was steckt wirklich dahinter? Ich liebe es, ein psychologisches Profil für meine Figuren zu entwerfen, empfinde diese Arbeit aber auch als unglaublich herausfordernd. Umso mehr freue ich mich, wenn mir meine Leser*nnen das Gefühl geben, alles richtig gemacht zu haben.

Wo und wann schreiben Sie am liebsten? Haben Sie eine besondere Schreibroutine?

Okay, das „wo“ ist wirklich eher langweilig, denn ich schreibe in einem kleinen renovierten Schuppen hinter meinem Haus, und das von etwa drei Uhr nachmittags bis neun Uhr abends an sechs Tagen in der Woche. Wenn ich ein paar Kapitel fertig habe, drucke ich sie mir aus und fahre  an einen schönen Ort, zum Beispiel in den Wald oder an den Strand. Dort sitze ich dann mit heruntergelassenen Fenstern im Auto und lese, um zu sehen, wie sich das Geschriebene in einer anderen Umgebung anfühlt.

In Ihrem Beruf als Autorin ist Sprache unerlässlich – Valerie und das Mädchen aus dem Eis müssen eine gemeinsame Sprache etablieren, haben aber dennoch eine sehr starke Verbindung zueinander. Könnte man sagen, dass eine wichtige Botschaft Ihres Romans ist, dass es letztendlich nur auf die Sprache des Herzens ankommt?

Auf jeden Fall. Für Naaja ist ihre Situation in der Arktis traumatisierend. Die Forschungsstation ist ihr fremd, ihr fehlt ihre Familie, und sie kann sich nicht verständigen. Valerie tut alles in ihrer Macht Stehende, um mit Naaja zu kommunizieren. Aber erst als Naaja merkt, dass sie Valerie mit ihrem Leben vertrauen kann, baut sie eine echte Beziehung zu ihr auf – und schließt sie in ihr Herz.

 

© Goldmann Verlag

Die Fragen an Erica Ferencik stellten Lisa Krämer und Elke Kreil

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