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»Ein Toter auf Seite 17 sollte im letzten Kapitel nicht wieder durchs Bild laufen – es sei denn, die Autorin schenkt ihm eine Wiederauferstehung«

Bianca Dombrowa

Ein Gespräch über Literatur, Upmarket und Genre mit Bianca Dombrowa

Bianca Dombrowa ist seit fast einem Jahr Editor at large Fiction für die Penguin Verlage. Ein Gespräch über ihre langjährigen Erfahrungen als Lektorin und die Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen und Gattungen fiktionaler Literatur

Bianca, du bist seit Jahresbeginn Editor at Large Fiction bei den Penguin Verlagen. Wie war dein Jahr?

Ein bisschen wie eine Expedition in eine weitläufige und abwechslungsreiche Landschaft voller spannender Orte und Begegnungen. Die Autor*innen und Kolleg*innen in der Verlagsgruppe nach und nach kennenzulernen und zu sehen, mit wie viel Freude, Professionalität und Kreativität man hier gemeinsam am Erfolg von Büchern arbeitet, das war und ist eine sehr inspirierende und bereichernde Erfahrung – neben den ersten schönen Akquisitionen für Penguin.

Der Bereich Fiction ist weit gefasst. Wo würdest du die Bücher verorten, an denen du in den letzten Jahren gearbeitet hast – und die du künftig für uns akquirierst?

In den vergangenen Jahren habe ich mich auf den sogenannten Upmarket-Bereich konzentriert – mit Ausschlägen ins »reine« Genre und in die Literatur. Der Bogen reicht von Autor*innen wie Rita Falk, Jussi Adler-Olsen, Dora Heldt oder Jens Henrik Jensen bis hin zu Sabine Friedrich oder Susanne Abel. Es ist diese Bandbreite, die mich interessiert und die ich bei Penguin mit Projekten hauptsächlich aus dem deutschsprachigen Raum weiterhin bedienen möchte.

Kannst du die Kriterien benennen, nach denen du Romane gesucht und Stoffe entwickelt hast?

Ich war und bin wie die meisten Lektor*innen immer auf der Suche nach Stoffen, die die Menschen sehr unmittelbar ansprechen, sie emotional und (oder) kognitiv erreichen, ohne dabei banal zu sein – das ist jedenfalls meine Vorstellung von Upmarket. Idealerweise eröffnen diese Bücher Gedankenwelten, in die man sich gerne begibt, die die Leser*innen überraschen, die aber auch nicht allzu weit weg sind von der eigenen Lebenswelt. Sie erweitern den Denkhorizont, regen an, auf oder fordern heraus. Man taucht ein in die Lektüre und verlässt das Buch mit einem Gefühl der Bereicherung. Die kann darin bestehen, dass man der Wirklichkeit für die Dauer der Lektüre entflieht oder sich intensiv mit genau dieser Wirklichkeit konfrontiert und im besten Fall mit neuen Erkenntnissen daraus hervorgeht.

Was unterscheidet die Genre- von der Upmarket-Literatur? Und was verbindet sie?

Unterhaltungsliteratur folgt je nach Genre bestimmten traditionellen Erzählprinzipien, Figurenkonstellationen oder Settings. Das ist bei der Fantasy nicht anders als in der Spannungsliteratur, dem Historischen Roman oder der sogenannten Frauenunterhaltung. So haben bestimmte Fabelwesen in der High Fantasy nichts zu suchen, im Spannungsroman – je nach Subgenre – ist es Ehrensache, dass der*die Autor*in sich bis ins Detail hinein um Plausibilität bemüht. Ein Toter auf Seite 17 sollte im letzten Kapitel nicht wieder durchs Bild laufen – es sei denn, die Autorin schenkt ihm eine Wiederauferstehung. Fast noch strenger sind die erzählerischen Gesetze im Bereich New Adult, in denen die sogenannten Tropes – also wiederkehrende Motive, Muster oder Themen – sehr präzise benannt und damit die Erwartungshaltungen der Leser*innen bedient werden.

Upmarket-Romane können sich über solche Muster und Erzählprinzipien hinwegsetzen, das verbindet sie auch mit literarischen Texten. Sie spielen mit den Genres, indem sie sie deklinieren, kombinieren oder auf die Probe stellen, und schaffen damit oft etwas Neues – im besten Fall sogar neue Trends. Sie sollten voraussetzungslos lesbar, stilistisch und architektonisch gut gemacht sein, ohne sich zu sehr auf Sprache und Stil zu fokussieren. Sowohl Genre- als auch Upmarket-Titel sind in der Regel plotgetrieben, während die sogenannte anspruchsvolle Literatur sehr gut ohne Handlung auskommen kann. Erfolgreiche Upmarket-Romane zeichnen sich – nach meinem Verständnis – auch dadurch aus, dass sie neben einem hohen Maß an Unterhaltungswert gut recherchiert sind und uns zum Beispiel ferne Länder, Epochen, Kulturen, Vorstellungs- oder Lebenswelten nahebringen. Ein solcher Mehrwert wird idealerweise gänzlich undidaktisch und eher subkutan mittransportiert.

Welchen Stellenwert hat in der Genreliteratur das Handwerkliche?

Fehlende handwerkliche Ambition rächt sich eigentlich immer. Die wirklich erfolgreichen Genre-Romane sind, was Erzählstrukturen, Figurenzeichnungen oder Plotarchitektur betrifft, handwerklich sehr gut gemacht und folgen konsequent den klassischen Erzählprinzipien. Wer das missachtet, wird das von den geübten Leser*innen einer äußerst viellesenden Fangemeinde gespiegelt bekommen. Während für jede*n Absolvent*in der Creative Writing Schools in den USA das Erlernen des Schreibhandwerks selbstverständlich ist, machen sich manche bei uns die Bedeutung des Handwerklichen nicht ausreichend bewusst. Durch konsequente Beratung und Zusammenarbeit in Agenturen und Lektoraten kann man aus guten Romanideen gemeinsam oft richtig tolle Romane entwickeln.

Im Bereich der Genreliteratur ist ja häufig davon die Rede, dass das Strickmuster das immer gleiche ist. Warum ist es dennoch so schwer, in diesem Segment erfolgreich zu sein? Was zeichnet die erfolgreichen aus?

Der Wunsch nach »same same« trägt oft über einen langen Zeitraum, manchmal über Jahre. Wann der Kipppunkt erreicht ist, kann man nie zuverlässig vorhersagen. Nur so viel ist klar: Es gibt in jeder Gattung  Autor*innen, denen etwas besser gelingt als vielen anderen: Sie vereinen in ihren Büchern herausragende Plots mit »echten« Charakteren, handwerklich-stilistischer und dramaturgischer Qualität und im besten Fall einem richtig großen Thema.

Von der Idee bis zum Erscheinen eines Buchs oder einer Reihe vergehen ja oft Monate oder gar Jahre. Woher weiß man, was in einem oder zwei Jahren ein großes Thema sein wird?

Natürlich muss man sich als Lektorin die Frage gefallen lassen, ob unsere Prognosen nicht Kaffeesatzleserei sind. Aber ich unterstelle meinen Lektorats-Kolleg*innen in den Verlagen, dass sie ihren Radar auch im echten Leben eher auf »weit« stellen und im Laufe des Berufslebens bestimmte Zyklen ausmachen – von wiederkehrenden Themen, Stoffen, gesellschaftlichen Strömungen. Daraus lassen sich schon einige Schlüsse ziehen, die sich produktiv auf die Auswahl von Büchern auswirken können. Dann gibt es die Autor*innen, die über ein ausgeprägtes seismografisches Talent verfügen. An ihnen kann man sich sehr gut orientieren, weil sie auf Romanerfolge zurückblicken, mit denen sie Themen gesetzt haben – sowohl in der Literatur als auch in der Unterhaltung. Das kann ein Abdulrazak Gurnah sein, ein Dirk Kurbjuweit, eine Maja Lunde, ein T.C. Boyle oder eine Sabine Friedrich. Manchmal treffen Bücher mit ihrem Thema auf einen Markt, der dafür noch nicht bereit ist, und entwickeln sich erst im Laufe der Jahre zu einem Trend. Ein Beispiel: Der erste große Roman über die Protagonist*innen des deutschen Widerstands gegen Hitler von Sabine Friedrich erschien 2012 – kurz vor Beginn der großen Welle der »Erinnerungskultur« im Upmarket, die sich wenig später auch im reinen Genre niederschlug. Dass »Wer wir sind« auch gut zehn Jahre nach Erscheinen immer noch lieferbar ist und die Autorin bis heute zu Veranstaltungen eingeladen wird, liegt an den Fragen nach Identität und Zugehörigkeit, die in ihrem Roman verhandelt werden und die gerade mit Blick auf die geopolitischen Eskalationen und unsere Haltung dazu aktuell bleiben. 

Welche Schlüsse kann man aus der Beobachtung ziehen, dass wir es auch im Buchmarkt mit bestimmten Zyklen zu tun haben?

Grundsätzlich könnte man sagen: Alle großen Ereignisse finden ihren Widerhall zunächst im Journalismus, werden dann in der Wissenschaft aufbereitet, nach und nach verdichtet und interpretiert in literarischen Werken und halten dann erst Einzug ins Unterhaltungsgenre. Wir orientieren uns auch an Untersuchungen, die gezeigt haben, dass der Bedarf an Romanen voller Action, Spannung und Gewalt tendenziell größer ist, wenn es in der Welt friedlicher zugeht. In Krisenzeiten greifen die Leser*innen eher auf Eskapistisches zurück. Oder sie suchen Orientierung in Stoffen, die sich mit realen aber bereits bewältigten Krisen befassen. In der Coronazeit konnte man beobachten, wie bei den Versandhändlern die klassischen Weltkriegs- und Katastrophenromane im Ranking nach oben gespült wurden.

Was uns in den Lektoraten umtreibt, ist die Weiterentwicklung von wiederkehrenden Genres, die Suche nach relevanten Stoffen, die ihr Potenzial gerade erst entfalten und damit Themen und Trends von morgen zu setzen. Diese Bücher sollten nicht nur wirtschaftlich funktionieren, sondern auch einen kulturellen Beitrag leisten, der die Grundwerte unseres demokratischen Zusammenlebens diskutiert, festigt, hinterfragt oder auch bekräftigt. Gerade im Bereich der Unterhaltungsliteratur, mit dem man – wenn es gut läuft – ja sehr viele Menschen erreicht, tragen wir Verlagsschaffende doch eine große Verantwortung für das, was in die Köpfe sehr vieler Menschen wandert.

Helfen dir aufbereitete Datenanalysen bei deiner Arbeit?

Seit Beginn meiner Expedition durch den PRH-Kosmos begeistert mich das interne Marktanalyse-Tool »Lighthouse«. Ein solches Instrument ist natürlich für unsere Arbeit eine tolle Basis, sowohl für die Betrachtung der aktuellen Neuerscheinungen im Markt als auch zur »ex-post-Analyse« von Trends und Einflussgrößen auf deren Absatzentwicklungen. Von dieser datenbasierten Ausgangslage aus den Blick in die weiterhin ungewisse Zukunft zu werfen, das wird auch weiterhin eine Kernaufgabe in den Lektoraten sein.

Welche Beziehungen entstehen zwischen dir und den Autor*innen, mit denen Du arbeitest?

Mit manchen Autor*innen verbinden mich viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, vertrauensvoller Zusammenarbeit. Da kann man irgendwann nicht mehr nur von einer rein professionellen Beziehung sprechen. Denn spätestens im Rahmen der Textredaktion und im Austausch darüber lernen Autor*in und Lektor*in sich oft sehr genau kennen und im besten Fall schätzen. Ein schöner Aspekt am Beruf der Lektorin ist, dass man sich über die intensive Textarbeit in den Kopf eines anderen begeben darf. Das ist nicht nur spannend, sondern hat auch zur Folge, dass man lernt, die Dinge auch mal aus ganz anderer Perspektive zu betrachten. Und fast noch schöner ist es, den Autor, die Autorin dabei zu begleiten, am Ende genau das formuliert zu haben, was er oder sie sich vorgenommen hat.

Du hast in deinem vorherigen Verlag u.a. Romy Hausmann betreut, die mit ihrem Psychothriller »Liebes Kind« sehr erfolgreich wurde. Was muss von Programmseite aus geschehen, damit eine bis dahin nahezu unbekannte Autorin zur Bestsellerautorin wird, in Deutschland und weltweit in 27 Ländern, bis hin zur Verfilmung durch Netflix, die gerade in 190 Ländern läuft?

Im Lektorat waren wir von Anfang an von Romys Text und seiner Vermarktbarkeit überzeugt. Der nächste Schritt war, diese Begeisterung auch im Verlag zu entfachen und frühzeitig den Kontakt zwischen Autorin und den Vermarktungsteams herzustellen. Die erste Frage war, ob man eher auf Autorinnen- oder auf Titelmarketing setzt. Aufgrund von Romys besonderer Persönlichkeit war die schnell beantwortet. Dann haben wir uns sehr früh darauf verständigt, wie man mit Ungewohntem, Genreüberschreitendem umgeht, und ob wir mit ungewöhnlichen USPs offensiv an die Öffentlichkeit gehen können. Setzen wir uns über Sehgewohnheiten beim Cover hinweg? Finden wir ein besonderes Veranstaltungsformat? Überraschen wir mit der ungewohnten Inszenierung einer Thrillerautorin im Blümchenkleid? Wenn im Verlag alle gemeinsam ein sicheres Gespür für das Wesen und die Besonderheiten von Text und Autor*in entwickeln, sprudeln die Kampagnenideen ganz automatisch.

Und zum Schluss die Frage: Woran arbeitest du gerade?

Im Moment freue ich mich über die Arbeit an Volker Klüpfels neuem Roman, den wir für Penguin gewinnen konnten. Es ist der Auftakt zu seiner ersten Solo-Reihe mit umwerfendem Setting, das im Verlag sofort alle Herzen hat höher schlagen lassen. Und Romy Hausmann hat ebenfalls ein neues Zuhause im Penguin Verlag gefunden. Sie schreibt an ihrem neuen Thriller zu einem höchst genreuntypischen Thema, mehr kann ich leider noch nicht verraten. In einem Interview sagte sie mal: »Meine Romane wollen mehr sein als reine Unterhaltung.« Sie sind es.

 

Interview: Markus Desaga

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