Aktuelles | 19.02.2021 | Luchterhand Literaturverlag

Zehn Fragen an Juli Zeh zu „Über Menschen“

Juli Zeh

Ihr neuer Roman erscheint am 22. März

Juli Zeh

„Über Menschen“ ist wieder ein Roman aus dem Dorfkosmos,  schon der Titel weist auf  „Unterleuten“ hin. Inwiefern kann man beide Romane in Verbindung bringen?

Es gibt eine Stelle in "Über Menschen", wo die Protagonisten gemeinsam Vögel beobachten. Sie sehen ein Exemplar der seltenen Kampfläufer und unterhalten sich darüber, dass es in der Nähe ein großes Naturschutzgebiet für diese Vögel gibt. Das heißt: das Dorf Unterleuten liegt ganz in der Nähe von Bracken, wo die Geschichte in "Über Menschen" spielt. Beide Romane entfalten sich im selben Kosmos, auch wenn keine Figuren aus "Unterleuten" in die Handlung von "Über Menschen" involviert sind. Seit ich  "Unterleuten" geschrieben habe, sind viele Jahre vergangen. Ich war sehr glücklich, beim Schreiben von "Über Menschen" in diese Welt zurückkehren zu können. Seitdem hat sich in unserer Gesellschaft so viel verändert, dass es für mich selbst faszinierend war zu sehen, wie anders die Probleme sind, mit denen sich meine Helden in "Über Menschen" heute herumschlagen müssen, und wie anders sie aufeinander zugehen.

Repräsentiert Dora, die Hauptfigur aus „Über Menschen“, die während der Corona-Pandemie aus der Stadt aufs Land flüchtet, einen bestimmten Zeitgeist?

Dora ist in vielerlei Hinsicht eine typische Vertreterin des aktuellen Zeitgeistes. Sie hat eigentlich alles, was sich ein Mensch wünschen kann - einen guten Job, einen Partner, eine schöne Wohnung in Berlin. Aber sie ist unglücklich mit sich selbst, sie fühlt sich überfordert, sie hat den Eindruck, mit den vielen Veränderungen und Anforderungen um sie herum nicht mehr mithalten zu können. Sie weiß eigentlich gar nicht, was sie im Leben will - sie weiß immer nur, was sie nicht will. Ein starker Fluchtinstinkt plagt sie, manchmal denkt sie, die Welt am liebsten in einer Rakete verlassen zu wollen, um im Weltall endlich Ruhe und Frieden zu finden. Ich glaube, dass solche Gedanken und Gefühle sehr viele Menschen betreffen, nicht nur wegen Corona, sondern auch, weil wir uns unserer eigenen Epoche, die uns so viel schenkt, uns aber auch mit so vielen Problemen konfrontiert, nicht richtig gewachsen fühlen.

Doras neuer Nachbar stellt sich sogleich als der „Dorf-Nazi“ vor. Zwingt eine Dorfgemeinschaft dazu, sich auf Menschen einzulassen, die man in der Stadt entschiedener ablehnen kann und einfach meiden würde?

Das ist genau das Besondere am Dorfleben. Die Stadt ist in gewisser Weise eine große Möglichkeitenmaschine - man hat immer die Möglichkeit, aber auch die Pflicht, etwas zu verändern und zu verbessern, wenn etwas stört oder nicht gut funktioniert. Neue Wohnung, neuer Job, neuer Partner, vielleicht sogar andere Freunde, eine neue Identität. Auf dem Dorf kann man nicht auf diese Weise ausweichen. Man lebt mit dem, was man vorfindet. Das stellt einen vor die Herausforderung, sich Konflikten wirklich zu stellen. Man lernt andere Menschen, aber auch sich selbst auf ganz neue Weise kennen.

Wieweit muss man die eigenen Überzeugungen hinten anstellen, um seine Mitmenschen zu sehen und ein Zusammenleben zu ermöglichen? Gibt es da auch eine Grenze?

Ich glaube nicht, dass es darum geht, eigene Überzeugungen zurückzustellen. Die Frage ist eher, ob und wie man damit leben kann, dass andere Menschen etwas anderes denken als man selbst, ja, dass sie gewissermaßen in einem ganz anderen, eigenen Universum leben, in dem ihnen die Dinge anders erscheinen. Natürlich gibt es im Zusammenleben Grenzen, wie man sich verhalten darf, was man sagen darf und was nicht. Zum Teil werden diese Grenzen durch Gesetze gesichert, zum Teil auch durch ungeschriebene Regeln der Sittlichkeit, des Anstands und des Geschmacks. Das gilt überall und ist gut so. Allerdings  beobachten wir derzeit eine Tendenz, dass viele Menschen es auch innerhalb dieser Grenzen schwierig finden, auf Menschen zu treffen, die eine andere Weltsicht vertreten. Das führt dann zu dem Gefühl, dass man selbst im Recht ist, während die anderen verrückt geworden sind. In letzter Konsequenz macht das einsam, und es behindert ein offenes Gespräch, wie wir es in einer Demokratie eigentlich führen wollen.

Die Spaltung der Gesellschaft scheint sich überall zu verstärken. Tritt diese womöglich auf dem Land offener zu Tage oder spielt sie dort eine geringere Rolle?

Mir scheint, dass die Spaltung generell eine geringere Rolle spielt, als es zum Beispiel in den sozialen oder konventionellen Medien erscheint. Wenn sich große Dinge ereignen, ist es normal, dass verschiedene Menschen dazu unterschiedliche Meinungen entwickeln. Einige schießen auch über das Ziel hinaus, in die eine oder in die andere Richtung. Aber wenn ich mein persönliches Umfeld betrachte, im schriftstellerischen Bereich, im juristischen Bereich und in meiner Dorfwelt, in der ich täglich lebe, dann sehe ich vor allem vernünftige, gemäßigte Menschen, die versuchen, so gut wie möglich miteinander und mit der Situation zurechtzukommen. Vielleicht liegt die größte Trennschicht manchmal zwischen der dargestellten Welt im öffentlichen Raum und zwischen der Alltagswelt, in der wir uns tatsächlich bewegen. Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht zu sehr an schrille Töne und grelle Farben gewöhnen, wenn wir einander schildern, was uns umgibt.

In „Über Menschen“ scheint der Umweltaktivismus der linksliberalen Städter*innen zum Lifestyle-Phänomen zu geraten, während die Dorfbewohner*innen mit ganz anderen Problemen zu kämpfen haben. Ist eine Annäherung beider Lebenswelten möglich?

Natürlich, und zwar immer dann, wenn es nicht um Lebensstile geht oder darum, wer klüger, besser oder mehr im Recht ist, sondern wenn es um die Sache geht. Denn die Probleme, mit denen sich zum Beispiel Umwelt- und Klimapolitik beschäftigen, sind ja real. Sie gehen tatsächlich alle Menschen an, unabhängig von ihrem Lebensraum oder ihrer sozialen Schicht. Das sind Aufgaben über die wir uns verständigen können und die wir gemeinsam angehen können und müssen. Das ist möglich und es ist vor allem dringend notwendig. Umso wichtiger ist es, dass wir darauf achten, beim Gespräch über diese großen Herausforderungen sachlich zu bleiben und uns gegenseitig nicht in irgendwelche Ecken oder Schubladen zu stellen.

Corona ist ein Thema im Roman; inwieweit wirkt Realität konkret auf den Schreibprozess ein?

Ich bin ohnehin eine Schriftstellerin, die stets versucht, möglichst nah am Puls der Zeit zu schreiben. Bei "Über Menschen" ist das noch intensiver geworden. Ich hatte die erste Fassung des Roman schon geschrieben, als sich die Pandemie über die Welt auszubreiten begann. Für mich war es ausgeschlossen, an dem Text weiterzuarbeiten, ohne darauf zu reagieren. Deshalb habe ich den Roman ein zweites Mal von Neuem geschrieben und die aktuellen Ereignisse mit einfließen lassen. Das war einerseits ein Wagnis, so nah an den täglichen Entwicklungen zu schreiben, andererseits war es aber auch spannend und für mich eine Möglichkeit, Dinge zu verarbeiten, die für uns alle schwer und belastend sind.

Sie leben selber seit langer Zeit mit Ihrer Familie in einem brandenburgischen Dorf. Stammen die Figuren aus Ihrem persönlichen Umfeld?

Alles, worüber ich schreibe, stammt aus meinem persönlichen Umfeld. Ich verarbeite immer Dinge, die ich gesehen oder gehört habe. Das darf man aber nicht mit autobiographischem Arbeiten verwechseln. Ich versuche, einen möglichst starken Realismus in meinen Texten zu entwickeln, so dass es scheint, als wäre das alles wirklich passiert. Das ist es aber nicht. Ich habe mir die Ereignisse ausgedacht, genau wie alle Figuren, die darin vorkommen.

Wie wichtig ist Ihnen Humor in „Über Menschen“? Ist der Roman eine Satire?

Der Roman hat sehr humorvolle Züge. Es entsteht häufig Situationskomik. Eine Satire würde ich es aber nicht nennen, denn letztlich ist es auch eine tragische Geschichte. Aber gerade weil das Leben manchmal so tragisch ist, muss man sich die Fähigkeit bewahren zu lachen - auch und immer wieder über sich selbst.

Und zuletzt noch die Frage: Wen legen Sie das Buch eher ans Herz: den Stadt- oder den Dorfbewohner*innen?

Diese Frage kann ich nicht beantworten, denn ich schreibe nicht für Zielgruppen. "Unterleuten" wurde sowohl von Dorfbewohnern als auch von Stadtmenschen gerne gelesen, und für "Über Menschen" wünsche ich mir, dass es genauso sein wird. Vielleicht kann das Buch ja sogar dabei helfen, gewisse Barrieren zu überwinden - dann wäre es aus meiner Sicht ein voller Erfolg.

 

 

Februar 2021. Die Fragen stellten Madlen Reimer und Elsa Antolín (Luchterhand Literaturverlag)

 

© Luchterhand Literaturverlag. Die Nutzung des Interviews oder von Auszügen daraus ist nach Rücksprache mit der Presseabteilung möglich. Kontakt: karsten.roesel@luchterhand-verlag.de

 

 

 

 


 

 

 

Das Interview zum Downloaden

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Dora ist mit ihrer kleinen Hündin aufs Land gezogen. Sie brauchte dringend einen Tapetenwechsel, mehr Freiheit, Raum zum Atmen. Aber ganz so idyllisch wie gedacht ist Bracken, das kleine Dorf im brandenburgischen Nirgendwo, nicht. In Doras Haus gibt es noch keine Möbel, der Garten gleicht einer Wildnis, und die Busverbindung in die Kreisstadt ist ein Witz. Vor allem aber verbirgt sich hinter der hohen Gartenmauer ein Nachbar, der mit kahlrasiertem Kopf und rechten Sprüchen sämtlichen Vorurteilen zu entsprechen scheint. Geflohen vor dem Lockdown in der Großstadt muss Dora sich fragen, was sie in dieser anarchischen Leere sucht: Abstand von Robert, ihrem Freund, der ihr in seinem verbissenen Klimaaktivismus immer fremder wird? Zuflucht wegen der inneren Unruhe, die sie nachts nicht mehr schlafen lässt? Antwort auf die Frage, wann die Welt eigentlich so durcheinandergeraten ist? Während Dora noch versucht, die eigenen Gedanken und Dämonen in Schach zu halten, geschehen in ihrer unmittelbaren Nähe Dinge, mit denen sie nicht rechnen konnte. Ihr zeigen sich Menschen, die in kein Raster passen, ihre Vorstellungen und ihr bisheriges Leben aufs Massivste herausfordern und sie etwas erfahren lassen, von dem sie niemals gedacht hätte, dass sie es sucht. 

Juli Zehs neuer Roman erzählt von unserer unmittelbarsten Gegenwart, von unseren Befangenheiten, Schwächen und Ängsten, und er erzählt von unseren Stärken, die zum Vorschein kommen, wenn wir uns trauen, Menschen zu sein.

Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, studierte Jura in Passau und Leipzig. Schon ihr Debütroman "Adler und Engel" (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Ihr Gesellschaftsroman "Unterleuten" (2016) stand über ein Jahr auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Rauriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003), dem Ernst-Toller-Preis (2003), dem Carl-Amery-Literaturpreis (2009), dem Thomas-Mann-Preis (2013), dem Hildegard-von-Bingen-Preis (2015) und dem Bruno-Kreisky-Preis (2017) sowie dem Bundesverdienstkreuz (2018). 2018 wurde sie zur ehrenamtlichen Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt.

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