Aktuelles | 31.10.2023 | Mosaik Verlag

"Wir glauben, dass selbst bestimmtes Handeln und Gestalten hilft, wenn der Tod ins Leben tritt."

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Sarah Benz und Kathrin Trommler über ihr Buch "Sarggeschichten".

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Cover

Liebe Sarah Benz, liebe Katrin Trommler, könnt Ihr Euch bitte kurz vorstellen?

Sarah: Ich lebe in Berlin und arbeite als Bestatterin, Trauerbegleiterin und engagiere mich ehrenamtlich in der Notfallseelsorge. Ich biete Kurse zu verschiedenen Themen rund um Sterben, Abschiednehmen und Trauer an und unterrichte als Dozentin für nonverbale Kommunikation in Pflegeeinrichtungen und Hospizen im gesamten deutschsprachigen Raum. Eine weitere Leidenschaft von mir ist die Musik. Ich spiele verschiedenen Instrumente, singe und schreibe Lieder.

Katrin: Ich arbeite als Damengewandmeisterin in der Kostümabteilung der Uckermärkischen Bühnen in Schwedt, lebe aber in Berlin. Seitdem mein Vater 1997 starb, setze ich mich mit den Themen Sterben, Tod und Trauer auseinander. Viele weitere Todesfälle in meinem Familien- und Freundeskreis, haben mir gezeigt, wie wichtig es ist mehr über dieses Thema zu sprechen.


Wie kam es zu Eurem Buch „Sarggeschichten“?

Sarah: Die „Sarggeschichten“ sind im Ursprung ein Kurzfilm-Projekt zu den Themen Sterben, Tod und Trauer. Im Sommer 2015 hatte ich die Idee dazu und begann mit Jan Möllers und einem kleinen Team erste Filme zu drehen und startete unseren YouTube-Kanal. Seit 2017 finanzieren wir uns ausschließlich durch Spenden. Dafür haben wir gemeinsam mit Katrin den Verein Sarggeschichten e.V. gegründet. Wir glauben, dass selbst bestimmtes Handeln und Gestalten hilft, wenn der Tod ins Leben tritt. Dazu wollen wir ermutigen und Informationen verbreiten. Vor allem wollen wir den Menschen zeigen, welche Gestaltungsmöglichkeiten sie haben, wenn jemand stirbt. Nach einem Gespräch auf Instagram wurde ich von einer Lektorin angesprochen, ob ich vielleicht ein Buch über Tod und Trauer schreiben wollte. Ich wollte – aber nur mit Katrin zusammen. Nun sind wir sehr glücklich, dass es die Sarggeschichten auch als Buch gibt. Ein Mutmachbuch für eine Zeit im Leben, in der Menschen geschwächt und verletzlich sind; für eine Zeit, in der es hilfreich sein kann, wenn man vorher schon einmal darüber nachgedacht hat, was geschehen soll, wenn ein wichtiger Mensch stirbt und verabschiedet werden muss.


Wer sollte Euer Buch lesen?

Katrin: Ich finde, alle Menschen sollten die Sarggeschichten lesen, denn Tod und Verlust werden jeden von uns früher oder später betreffen. Es kann dann hilfreich sein, schon mal etwas darüber gelesen zu haben, sich Gedanken zu machen und zu wissen, welche Möglichkeiten es beim Abschied gibt.


Ab wieviel Jahren kann man Euer Buch lesen?

Sarah: Es ist unterschiedlich, ab welchem Alter sich Kinder für die Themen Sterben und Tod interessieren. Je nach Interesse und je nachdem, ob das Kind beim Lesen von einer Bezugsperson gut begleitet werden kann, ist das Buch ab etwa acht Jahren geeignet.


Kinder trauern anders als Erwachsene. Hat Euer Buch auch Rat für deren Bezugspersonen?

Sarah: Vielen Erwachsenen fällt es schwer, die Trauer von Kindern auszuhalten. Vermutlich möchten sie Kinder vor dem Schmerz, der bei einem Verlust entsteht, beschützen. Manchmal verschweigen sie deshalb wichtige Informationen oder verbergen eigene Gefühle. In unserem Buch wollen wir dazu ermutigen, sich der Trauer von Kindern zu stellen und sie anzunehmen, so wie sie ist: still oder wütend, zurückgezogen oder extrovertiert. Eine gute Begleitung bedeutet, sich den Kindern zuzuwenden, sie einzubeziehen und Fragen einfach und ehrlich zu beantworten. Darüber sprechen wir ausführlich in unserem Kapitel: „Was brauchen trauernde Kinder?“


Im Buch sprecht Ihr von Zugehörigen statt Angehörigen. Warum?

Katrin: Im Strafgesetzbuch zählen zu den Angehörigen nur Personen, die in gerader Linie verwandt oder verschwägert sind, aber mittlerweile ist unser Verständnis von Partnerschaften, Freundschaften und Beziehungen deutlich vielfältiger. Wir leben in tiefer Verbundenheit mit einem oder mehreren Menschen ganz ohne rechtlichen Rahmen, in Lebenspartnerschaften, in offenen Beziehungen, als Geliebte, Freundinnen, Kollegen oder Bekannte. Mit dem Wort „Zugehörige“ möchten wir alle Menschen ansprechen, die eine wichtige Verbindung zu einem anderen Menschen haben.


Kommen in Eurem Buch die Zugehörigen auch selbst zu Wort, um Ihre Geschichte zu erzählen?
Katrin: Ja, das ist ein zentraler Bestandteil der Sarggeschichten, der uns besonders wichtig ist. In den achtzehn Kapiteln unseres Buches geben wir einen Einblick in verschiedene Stationen des Abschieds, vom Sterbebett über die Abschiednahme bis hin zur Trauerfeier und die Erinnerung an die Verstorbenen. Zu jedem Thema haben wir Menschen gebeten, von ihren persönlichen Erlebnissen zu berichten. Daneben wird man auch Sarahs und meine Geschichten erfahren und was uns dazu gebracht hat, dieses Buch zu schreiben.

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Von welcher Sarggeschichte würdet Ihr hier schon gerne erzählen, um einen Einblick in Euer Buch zu geben?

Sarah: Ich würde gern aus dem Kapitel: „Was ist eine Abschiednahme?“ ein Stück von Silkes Geschichte erzählen, eine Frau, die ich bestattet habe. Sie hat mit mir vor ihrem Tod genau besprochen, wie sie sich ihren Abschied vorstellte und was ihr dabei wichtig war: „Wir hatten im Abschiedsraum viele Kerzen angezündet, Kaffee, Tassen, Teller und verschiedene Kuchen standen auf einem Holztisch bereit. Aus einem Lautsprecher erklang Musik, die Silke gerne gemocht hatte. Sie lag in ihrem Sarg und es standen Stühle um sie herum, sodass man sich zu ihr setzen konnte. Da sie Ginkgos sehr geliebt hatte, hatte ihr Mann das Laub von Ginkgobäumen gesammelt und die Blätter liebevoll über sie gestreut. Ihre Tochter hatte Kraniche aus buntem Origamipapier gefaltet, auf die Wünsche und Gedanken geschrieben werden konnten. Die farbenfrohen Vögel durften dann zu Silke in den Sarg gelegt werden. Eine Haarsträhne ihrer Tochter hielt Silke in der Hand. Als Tausch dafür, dass das Kind sich auch eine Haarlocke der Mutter abgeschnitten hatte. Die ersten Trauernden, die eintrafen, waren erst mal zurückhaltend. Sie schauten Silke an, hatten keinen Appetit auf Kuchen und standen anfangs eher vor dem Abschiedsraum als darin. Aber mit der Zeit lösten sich die Hemmungen. Eine Person nach der anderen trat zu Silke heran, streichelte sie, schrieb letzte Botschaften auf die Kraniche, und langsam pirschten sich die Gäste auch an das Kuchenbüfett und die Getränke heran. Allmählich kehrte eine leichte, fast fröhliche Stimmung ein. Es wurde viel von Silke erzählt und sie wurde, auch noch im Tod, für ihre Schönheit bewundert. Durch den Tumor hatte sie lange schreckliche Schmerzen ertragen müssen. Nun lag sie dort und sah wunderschön und friedlich aus. Die Lachfältchen um ihre Augen ließen sie lächeln und alle hatten das Gefühl, dass dies ein Abschied von ihr war, den sie gutgeheißen hätte. Ihr Mann streichelte sie immer wieder und küsste sie. Die beiden hatten sich sehr geliebt, waren den ganzen Weg gemeinsam gegangen. Es war ein Schwingen zwischen Lachen und Weinen, Dankbarkeit und Traurigkeit, Innehalten und Weiterleben.“


Was bedeutet selbst bestimmtes Abschiednehmen?

Sarah: Selbstbestimmt Abschiednehmen bedeutet, einen Abschied so zu gestalten, dass er zum verstorbenen Menschen passt und zu denen, die sich verabschieden. Es geht darum, die eigenen Bedürfnisse zu spüren und sie umsetzen zu können. Dazu ist es wichtig, zu wissen, welche Möglichkeiten es gibt und was man alles gestalten kann. Denn nur dann können sich Menschen für oder gegen etwas entscheiden. Manche entscheiden sich dazu, den Sarg zu bemalen, Kaffee statt Erde ins Grab zu werfen, weil es zum verstorbenen Menschen passt oder nicht mit ins Krematorium zu gehen, weil es sich nicht stimmig anfühlt. Zu manchen Menschen passen kirchliche Bestattungen mit Gebeten und schwarzer Kleidung. Für andere passt es nicht und dann können gemeinsam neue Rituale entwickelt werden. Etwas gestalten zu können, stärkt Menschen in ihrer Handlungsfähigkeit. Das kann in einer Krise hilfreich sein, denn dadurch fühlen wir uns weniger ohnmächtig. 


Euer Buch zeigt sehr viele Wege auf, um individuell von einer verstorbenen Person Abschied zu nehmen – z.B. die Toten selbst zu waschen, den Körper zu Hause aufbahren, den Sarg bemalen, mit ins Krematorium gehen… Warum wissen wir so wenig über unsere Möglichkeiten?

Katrin: Weil keiner danach fragt. Über die Themen Sterben, Tod und Trauer wird wenig gesprochen. Das ändert sich gerade, aber der Großteil unserer Gesellschaft meidet im Alltag „schwere“ Gespräche über Gefühle, Ängste, Verlust und Schmerz. Deshalb gibt es nur sehr wenig Austausch darüber und viel Unwissen, wenn es um Bestattungen und Abschiednehmen geht. Dabei können wir viel gewinnen, wenn wir uns mehr damit auseinandersetzen. 


Welche Rolle spielen hier Bestattungsunternehmen? Welche Rolle könnten z.B. auch Schulen ausfüllen?

Sarah: Bestattende können Raum geben, informieren und Zugehörige individuell begleiten und sie ermutigen Dinge selbst zu gestalten. So kann ein Abschied entstehen, der zu der verstorbenen Person und den Zugehörigen passt und positiv in Erinnerung bleibt. Über diese positiven Erfahrungen sprechen Menschen dann häufiger auch im Alltag. So wird der Austausch über diese Themen möglich.

Katrin: Ähnlich wie beim Thema Geburt, sollten Fragen von Kindern zum Thema Tod schon im Kleinkindalter einfach und offen beantwortet werden. Die Fragen kommen bei Kindern von ganz allein. Wenn wir dann den Mut haben darauf einzugehen, können sehr schöne und innige Gespräche entstehen. Es wäre schön, wenn in Schulen das Thema „Gefühle“ grundsätzlich eine Rolle spielen würde. Es geht mir dabei nicht nur um Trauer, Schmerz und Verlust, sondern auch um Gefühle wie Wut, Angst, Scham und Schuld. Gefühle zu erkennen, sie zu benennen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, das sollte meiner Meinung nach an Schulen unterrichtet werden. So stärken wir die Sprachfähigkeit unserer Kinder. Wenn wir offener mit unseren Gefühlen umgehen können, dann sind auch Gespräche über Sterben, Tod und Trauer leichter möglich.


Die Kirche hat heutzutage eine geringere Bedeutung, wenn es ums Trauern geht. Wer hat ihren Platz eingenommen?

Sarah: Niemand. Deshalb gibt es so viel Unsicherheit und Orientierungslosigkeit. Wenn wir uns aber mit unseren Bedürfnissen auseinandersetzen und neue Rituale schaffen, dann haben wir die Chance, eine neue, erweiterte Trauerkultur zu entwickeln, die Menschen wieder mehr Halt gibt.


Wie finden Zugehörige genau den einen Bestatter, der gut zu ihnen passt?

Sarah: Empfehlungen aus dem Familien- und Freundeskreis können helfen, aber auch ein Blick ins Internet ist ein guter Ausgangspunkt. Ich achte bei Webseiten auf folgendes: Sind die Bestattenden dort sichtbar, die mich begleiten möchten? Wird neben Papieren und Trauerfeier auch über die Versorgung der verstorbenen Person geschrieben oder über die Möglichkeit einer Abschiednahme? Wenn Zugehörige ein Bestattungsunternehmen gefunden haben, bei dem das Angebot grundsätzlich passt, ist es gut, auch auf das Bauchgefühl zu hören. Fragen wie: „Möchte ich dieser Person meinen verstorbenen Menschen anvertrauen?“, oder „Fühle ich mich mit meiner Trauer und all meinen Gefühlen bei dieser Person gut aufgehoben?“, helfen am Ende bei der Entscheidung. Es ist jederzeit möglich, das Bestattungsunternehmen zu wechseln, wenn es doch nicht passt.


Und was konkret wünscht Ihr Euch für die Zukunft von „Trauer und Bestattung“ in Deutschland?

Sarah: Wir wünschen uns unterschiedliche Angebote für unterschiedliche Bedürfnisse und eine liebevolle Begleitung für alle Trauernden. Es sollte viel mehr Informationen über Abschiednehmen, Trauern und Bestatten geben. Wir wünschen uns bessere Gesetze, die mehr Freiheiten für Trauernde erlauben. Es ist nicht nur eine individuelle Frage, wie wir Abschied nehmen wollen. Es ist auch eine gesellschaftliche. Welche Rahmenbedingungen soll Abschied haben? Wie viel Raum darf, soll oder muss er sogar einnehmen, damit wir gesund trauern können? Soll es mehr freie Zeit geben vom Arbeitgeber? Brauchen wir mehr Freiheiten für den Umgang mit der Asche unserer verstorbenen Menschen? Sollten wir nicht allen, die das wollen, ermöglichen, ihre Verstorbenen zu waschen, anzukleiden oder zwei Tage im Sarg zu Hause aufzubahren? Brauchen wir neue Orte für Abschiede? Wir wünschen uns eine lebendige Auseinandersetzung mit den Themen Sterben, Tod und Trauer damit sich eine vielfältige Abschiedskultur entwickeln kann. Menschen in Trauerprozessen sollen sich gestärkt und ermutigt fühlen, so zu trauern, wie es ihnen guttut. 

Danke für Eure Zeit, liebe Sarah Benz und liebe Katrin Trommler.

 

Das Interview führte Julia Meyn für den Mosaik Verlag. Interview bei gleichzeitiger Abbildung des Buchcovers zum Abdruck freigegeben.
 

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