Aktuelles | 02.03.2022 | Luchterhand Literaturverlag

„Wenn es Wesen gibt, die zu 99 Prozent aus Wasser bestehen, was macht sie dann aus? Was macht uns wirklich aus?“

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Marie Gamillscheg über ihren neuen Roman „Aufruhr der Meerestiere“ und die Sehnsucht, sich von Körper, Geschlecht und Hierarchie zu befreien und Teil eines Quallenschwarms zu werden

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Luise, die Hauptfigur in deinem Roman, ist eine erfolgreiche Meeresbiologin Anfang dreißig. Ihr Forschungsobjekt ist die Meerwalnuss, eine Rippenqualle, die durch ihre unkontrollierte Vermehrung das ökologische Gleichgewicht stört. Im hart umkämpften Wissenschaftsbetrieb weiß Luise sich zu behaupten, am Institut in Kiel hat sie eine der begehrten festen Stellen. Eine erfolgreiche, sinnstiftende Tätigkeit – genau das, was sich viele junge Menschen vom Leben erwarten. Und dennoch steht Luise unter einem enormen inneren Druck, ist von einer großen Unsicherheit geplagt. Woher kommt dieses Unbehagen?

Luise führt nach gesellschaftlichen und auch nach ihren persönlich auferlegten Maßstäben ein erfolgreiches Leben. Doch in all den Kämpfen, die sie in ihrem Alltag zu führen hat, mit ihrem Umfeld und mit sich selbst, hat sie längst die anfängliche Sinnhaftigkeit und damit auch eine Sinnlichkeit, mit der sie an die Dinge herangeht, verloren. Das Unbehagen, das sie quält, rührt genau daher. Es ist ein Unbehagen, das sich der Ursprünge unsicher geworden ist. Es sagt ihr, dass hinter all den auferlegten Zielen, Wünschen und Träumen Gesetze stehen, die andere für sie geschrieben haben und denen sie bisher blind gefolgt war.

Luise hat hohe Erwartungen an die Welt, aber vor allem an sich selbst. Ist diese Haltung repräsentativ für unsere Zeit?

Das ist schwer zu sagen. Luise ist auf jeden Fall keine Metapher, kein Zeichen der Zeit. Luise ist Luise, die sich so in meinen Text geschrieben hat. Ich denke jedoch, dass viele Menschen heutzutage diesen Druck auf sich lasten spüren, von dem immer schwieriger zu sagen ist, woher er kommt, weil wir mittlerweile wissen, dass unsere eigenen Bedürfnisse mit den Anforderungen der Gesellschaft verstrickt sind, und so wird dieses Gefühl immer diffuser, undeutlicher und auch belastender. Aber was würde mit uns passieren, wenn wir uns auf unseren ursprünglichen Antrieb verlassen, welche Menschen wären wir dann? Und wenn wir diesen auch nicht haben, könnten wir nicht auch darauf vertrauen? Sich darauf einzulassen, ist natürlich schmerzhaft, denn es bedeutet, sich erstmal auf seine reine Existenz zu verlassen. Die hohen Erwartungen stellen häufig auch eine Flucht in Zukünftiges dar, mit der wir uns der Beweglichkeit der Gegenwart verwehren.

Könnten wir uns Luise auch als einen Mann Anfang dreißig vorstellen oder ist ihre innere Unsicherheit typisch weiblich?

Ihre Unsicherheiten rühren sicherlich zu großen Teilen daher, dass sie als Frau aufgewachsen ist. Es gibt Normen und Riten, die sie sich aneignen oder gegen die sie sich wehren muss, auf jeden Fall muss sie sich dazu verhalten. Ein Mann Anfang dreißig hat eigene innere Ängste, die sich Luises in vielen Dingen bestimmt ähneln, aber doch unterscheiden, so wie sich alle unsere Sorgen unterscheiden, je nachdem wo und wie wir aufgewachsen sind und wie wir damit umgehen. Und doch haben sie alle gemein, dass sie mit der stetigen Unsicherheit einhergehen, wo sich unser Platz in der Welt befindet.

Luise hat eine krankhafte Obsession mit ihrem Körper – vor allem schlank und jung soll er sein. Man könnte sagen, dass sie unter dem Diktat des klassischen weiblichen Körperkults steht. Wieso schafft sie es nicht, sich vom äußeren, fremden Blick zu befreien?

Weil es unmöglich ist. Wie soll man sich auch davon befreien, wenn man zugleich in einer Gesellschaft leben möchte, auf Blicke und Anerkennung angewiesen ist? Wir sprechen heute viel über krankhaften Körperkult, der als Maxime mal superdünn, mal supersportlich hat. Ich beobachte aber, dass besonders in gebildeten Kreisen oft noch immer so getan wird, als wäre das ein gesellschaftliches Phänomen, das nur die anderen betrifft. Mit dem Tabu kommt eine Scham daher. Als würde diese Obsession uns noch immer nur in der Pubertät betreffen dürfen, wo wir staunend und angstvoll unseren Körpern bei der stetigen Veränderung zuschauen. Doch die Obsession bleibt. Ich kenne keine Frau, die sich nicht öffentlich oder heimlich stetig mit ihrem Körper beschäftigt. Es geht nicht darum, sich davon zu befreien, sondern darum, damit zu leben. Und das bedeutet auch, darüber zu sprechen.

Ein zentraler Aspekt im Roman ist Luises Beziehung zu ihrem Vater, in dessen Wohnung sie während eines Forschungsprojekts in ihrer Heimatstadt Graz wohnt, während er unerwartet mit einem Herzleiden im Krankenhaus liegt. Trotz behüteter Kindheit in einer Mittelschichtsfamilie ist das Verhältnis zu ihrem Vater von einer seltsamen Distanz und Sprachlosigkeit geprägt. Woran liegt das?

In dem Roman geht es um die Väter der Nachkriegskindergeneration – auch Luises kommt aus dieser. Sein Vater war noch der alte Familienpatriarch, so einer will er nicht mehr sein, aber seine erlernten Rollenbilder erlauben es ihm auch nicht, einer jener aufgeklärten Väter zu sein, die zu gleichen Teilen Care-Arbeit übernehmen wollen. Luises Vater weiß nicht, an wen er sich halten soll. Er weiß nicht, wie er mit seiner Tochter umgehen soll, die einmal eine Frau werden wird. Vor allem dieses Werden bereitet ihm Unbehagen. Er flüchtet sich in die Arbeit. Je älter die Tochter wird, desto fremder wird sie ihm und desto mehr entsteht diese Distanz, die bald von etwas begleitet ist, das man tatsächlich Angst nennen kann. Er fürchtet sich vor Luise, vor ihrem Frausein, vor all dem, was sie für ihn repräsentiert. Luise wächst in dieser Angst auf – eine diffuse Angst vor ihr, die natürlich großen Einfluss auf ihr Selbstverständnis in der Beziehung zum Vater und auch zu allen anderen Menschen hat.

Eine weitere Protagonistin des Romans ist die Meerwalnuss, Mnemiopsis leidyi. Containerschiffe bringen die Rippenquallen durch ihre Ballastwassertanks von wärmeren Gewässern u.a. bis an die Ostsee, wo sie sich unkontrolliert vermehren und das ökologische Gleichgewicht stören. Was fasziniert Luise an diesen Tieren?

Für Luise sind die Quallen schreckliche Fantasie und Sehnsuchtsort zugleich. Ersteres, weil die Quallen, im Gegensatz zu Luise, die so sehr versucht ihre Form zu finden, sich auflösen, ihre Form stetig verändern, fast nur aus Wasser bestehen. Wenn es Wesen gibt, die zu 99 Prozent aus Wasser bestehen, was macht sie dann aus? Was macht uns wirklich aus? Unser Körper, unser Verhältnis zu anderen? Diese Unsicherheit ist für Luise beunruhigend. Doch Luise sieht in ihnen auch eine Möglichkeit der Befreiung, denn die Quallen kennen kein Geschlecht, keine Hierarchien, keinen Fortschritt im menschlichen Verständnis. Was würde passieren, wenn auch sie, Luise, ihren individuellen Körper verlässt und dem Schwarm vertraut, nicht der Zeit, sondern dem Rhythmus des Wellenschlags?

Der Eingriff des Menschen in die Natur war schon in deinem Debütroman „Alles was glänzt“ ein zentrales Thema. Auch in „Aufruhr der Meerestiere“ ist diese Thematik sehr präsent: einerseits durch die Meerwalnuss und ihre verheerende Ausbreitung und anderseits in der geordneten, gezähmten und künstlichen Natur des Grazer Tierparks, in dem Luise forscht. Ist dir Ökologie beim Schreiben ein Anliegen?

Bei beiden Romanen stand für mich am Anfang die Beziehung zwischen Mensch und Natur gar nicht im Vordergrund. Eigentlich habe ich mich für die Beziehungen der Figuren untereinander interessiert, erst während der Arbeit habe ich gemerkt: Wenn ich über das Verhältnis zwischen Menschen nachdenken will, muss ich mich mit dem Verhältnis der Menschen zur Natur beschäftigen. Es geht für mich heutzutage nicht mehr, diese zwei Dinge voneinander losgelöst zu betrachten. Die Probleme des modernen Menschen sind nicht ohne die Zeit, in der er lebt, zu denken, und die Zeit, in der wir leben, ist die einer globalen Klimakrise. Und auch wenn wir das heutzutage nicht sehen wollen, beeinflusst diese nachhaltig, wie wir uns begegnen, wie wir denken, wie wir lieben, schlicht wie wir leben – und umgekehrt natürlich auch.

Wie bist du selbst auf die Meerwalnuss gestoßen und wie hast du insgesamt für deinen Roman recherchiert?

Ein wichtiges Thema im Roman ist die Auseinandersetzung mit Perspektiven einer Erzählung. Wer hat eine Stimme, wer erzählt am lautesten, wer erzählt über jemand anderen? Wenn ich die Erzählung aus der Perspektive der Verstummten erzähle, was könnte das dann für eine sein? Ich habe mich schon lange mit Zoos beschäftigt, weil ich es interessant fand, wie es dort gelingt, Narrative umzuschreiben, um sich so seine eigene Existenzberichtigung zu erfinden, obwohl vieles genau gegen diese spricht. Über die Zoos kam ich zum Artensterben und so zu den invasiven Arten, wo ich alles, was mich daran interessiert, in seiner zugespitzten Form vorfand. Wer die Berichterstattung über invasive Quallenarten verfolgt, kann schnell sehen, wie der Mensch dort sich selbst als Opfer einer Umweltkatastrophe darstellt, die Quallen hingegen als kriegerisch, kannibalisch, räuberisch, invasiv eben. So wird unter den Tisch gekehrt, wer hier eigentlich die Quallen eingeschleppt hat: Der Mensch natürlich. Außerdem fand ich es interessant, wie die Natur in diesem Beispiel zurückschlägt. Der Aufruhr, der hier erzählt wird, ist ein stiller, und umso wirkungsvollerer. Tiere, die zu 99 Prozent aus Wasser bestehen und kein Herz und kein Hirn haben, können Atomkraftwerke lahmlegen und Ökosysteme nachhaltig verändern. Ich war gleich von der Meerwalnuss fasziniert, doch die Recherche dazu gestaltete sich sehr schwierig, weil die Forschung dazu sehr jung ist. Man weiß noch sehr wenig. Die Wissenschaft hat sich lange Zeit nicht mit Quallen beschäftigt, weil man sie als unbedeutende ökologische Sackgasse, salzwassergefüllte Ballons am unteren Ende der Nahrungskette abgetan hatte. Ich habe schließlich Kontakt gesucht zu Tierparks und Quallenforscher*innen in Deutschland und Europa, mit vielen gesprochen, einige besucht.

Deine Sprache ist bildhaft und poetisch. Wir wechseln beim Lesen mühelos von der Gegenwart in die Vergangenheit und driften manchmal auch ins Traumhafte. Dabei sind wir immer ganz nah bei Luise, sehen die Welt durch ihre Augen. Wie ist es als Autorin, sich so sehr in eine Figur hinein zu versetzten und mit ihr verbunden zu sein?

Zu Beginn war der Roman ein reiner Wuttext, der mit einer gewissen Leichtigkeit daherkam. Erst als ich mich weiter der Figur näherte und die Einseitigkeit von verschiedenen Wirklichkeits- und somit auch Perspektivebenen eingelöst wurde, wurde es immer schwieriger mich von der Figur zu trennen, wurde es zugleich aber auch immer schmerzhafter, mich ihr noch weiter anzunähern – und dennoch war das wichtig. Ich glaube, erst ab diesem Zeitpunkt ist aus einem Text ein Roman geworden.

 

 

März 2022. Fragen von Elsa Antolín, Luchterhand Literaturverlag

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