Unsagbar ist ein sehr persönliches Buch über eine Gewalttat, die Sie erfahren mussten. Warum war es Ihnen wichtig, dieses Buch zu schreiben und Ihre Geschichte zu erzählen?
Ich habe zwei Dinge sehr schnell gemerkt nach der Tat. Zum einen: Es ist ungemein schwer darüber zu sprechen, aber das Sprechen war und ist notwendig für mich und meinen Heilungsprozess. Zum anderen habe ich viel gelernt (lernen müssen) über die Tat, über Mythen, die Vergewaltigungen anhaften und über gesellschaftliche Bilder und Erwartungen an Betroffene. Für mich stand daher schnell fest: ich werde darüber schreiben! Wir als Gesellschaft sind gefordert, unser Denken und Handeln zu hinterfragen, uns mit struktureller Gewalt und Machtmissbrauch zu beschäftigen, wenn wir wollen, dass sich etwas verändert. Ich hoffe, dass meine Geschichte, mein persönlicher Weg dabei hilft, zu verstehen, in was für einer Situation Frauen nach so einer Tat sind. Dabei ist jede Geschichte anders. Mein Weg ist nicht der einzige, richtige Weg – den müssen alle Betroffenen für sich jeweils finden und gehen. Aber meine Geschichte gibt Einblick, auf wie vielen Ebenen sich so eine Tat auswirkt und ich schildere meinen Umgang damit.
Für wen ist Ihr Buch gedacht?
Unser Text ist eine Einladung an viele. In erster Linie an Betroffene sexualisierter Gewalt. Mir hätte ein solches Buch nach der Tat enorm geholfen. Wenn dieses Buch auch nur einer Betroffenen eine Hilfestellung sein kann, haben wir sehr viel damit erreicht. Es ist auch für Angehörige und Freunde von Betroffenen. Auch sie müssen einen Umgang finden damit, dass ein geliebter Mensch eine solche Gewalterfahrung machen musste. Es ist aber vor allem auch eine Einladung an uns als Gesellschaft, an Institutionen und Organisationen, sich mit dem Thema der strukturellen Gewalt auseinanderzusetzen.
Was ist Ihnen mit Blick auf die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt besonders wichtig?
Das Buch heißt Unsagbar, weil es so schwierig ist, über sexualisierte Gewalt und strukturelle Gewalt zu sprechen. Das Thema ist für die Betroffenen sehr intim und häufig mit Scham behaftet. Und es ist »unbequem«. Man hat das Gefühl, dass man anderen etwas »zumutet«. Es erfordert Kraft auf beiden Seiten: das Sprechen und das Zuhören. Wir müssen das als Gesellschaft zulassen und aushalten, auch, dass wir keine einfachen Antworten und Lösungen haben. Aber das Thema ist da und es betrifft uns als Gesellschaft. Wir als Gesellschaft kennen im Grunde diese Strukturen, wir sehen und erhalten sie – oder ändern sie eben. Dafür braucht es ein Zuwenden und Zuhören, insbesondere gegenüber Betroffenen. Und es braucht das Sprechen über Ursachen und Wirkungen. Nur wenn wir dazu bereit sind, können wir den Handlungsspielraum für Täter:innen kleiner machen.
Während Ihrer Auseinandersetzung mit der Tat haben Sie sich mit mehreren Anwält:innen beraten. Die Ergebnisse sind erschütternd. Sie haben sich entschieden (zunächst) nicht anzuzeigen. Warum? Was läuft falsch in unserem Rechtssystem?
Die Begegnung und Auseinandersetzung mit dem juristischen System haben mich an vielen Stellen sprachlos gemacht. Wir sollten uns unbedingt die Frage stellen: warum zeigen so wenig Betroffene an? Laut Studien werden in Deutschland von hundert Vergewaltigungen zehn angezeigt und davon wird eine verurteilt. Es gibt leider sehr viele Gründe, auf die ich in dem Buch detailliert eingehe. Nicht, um Frauen davon abzuhalten, anzuzeigen, sondern um dem System, der Gesellschaft und dem Staat vor Augen zu halten, was Betroffene nach der Tat erleiden müssen. Hier muss dringend nachgebessert werden. Der Zustand ist für die Betroffenen einfach inakzeptabel. Daraus ergab sich für mich auch das Gefühl: mit dem Weg zur Polizei und mit der Entscheidung zur Anzeige verliere ich (wieder) die Kontrolle und bin einem System ausgeliefert, dessen Regeln ich nicht kenne und das sich für mich nicht als Schutzraum anfühlt. Als Betroffene bin ich ab dem Moment der Anzeige »nur« Zeugin und kann maximal Nebenklage erheben. Der Staat klagt an. Und das auch nur dann, wenn ein Prozess »sinnvoll« erscheint. Das ist bei vielen Prozessen, bei denen Aussage gegen Aussage steht, schwierig. Die Anwältinnen, bei denen ich war, haben mich sehr gut beraten und auch die Chancen eines Prozesses aufgezeigt. Für mich fehlt jedoch aktuell das Vertrauen in dieses System und die Kraft, so einen Prozess und jede Form seines Ausgangs zu ertragen.
Zu Vergewaltigungen gibt es zahlreiche »Vergewaltigungsmythen«, die Sie und Anne Roth auch im Buch benennen. Was verbirgt sich hinter den zutiefst misogynen Stereotypen?
Mit diesen Mythen meinen wir Vorurteile über sexualisierte Gewalt und Vergewaltigungen, die Betroffenen eine Mitschuld geben und Täter:innen entlasten. Und diese Mythen prägen nicht nur das Verhalten von Betroffenen nach der Tat, weil sie das Fehlverhalten und die Schuld bei sich suchen und sich häufig auch deshalb nicht trauen zu sprechen oder anzuzeigen. Diese Mythen sind auch in der Gesellschaft, bei Fachkräften der Polizei, Justiz, Medizin weit verbreitet. Mit dem Erhalt dieser Mythen wird versucht, die Verantwortung für sexualisierte Gewalt bei den Betroffenen, zumeist Frauen (bzw. weiblich gelesene Personen) zu verorten und dieser Reflex hat eine lange Geschichte. Misogynie hat eine gesellschaftliche Funktion: Sie erhält bestehende Systeme und stärkt patriarchale Strukturen. Wenn wir etwas für unsere Freund:innen, Töchter, Enkelinnen, Frauen tun wollen, dann sollten wir aufhören diese Mythen aufrecht zu erhalten und bereit sein hinzuschauen, wie und wo diese Gewalt tatsächlich stattfindet und dann sind wir gefordert Strukturen, die das begünstigen, zu verändern!