Aktuelles | 24.04.2024 | Penguin

»Ungehorsam kann befreiend sein«

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Beatrice Salvioni über ihr aufsehenerregendes Debüt »Malnata« 

Beatrice Salvionis Debüt »Malnata« sorgte nicht nur in Italien für große Aufmerksamkeit (der Titel stand wochenlang auf der Bestsellerliste), sondern wird mittlerweile in insgesamt 35 Sprachen übersetzt. Am 15. Mai erscheint der Roman in der deutschen Übersetzung von Anja Nattefort  - ein großartiger Auftakt für das diesjährige Buchmessen-Gastland Italien im Penguin Verlag.

 

Beatrice Salvioni im Gespräch über ihren Roman »Malnata«

In Ihrem Romandebüt wählen Sie eine Stadt in der Zeit des Faschismus als Kulisse. Im Zentrum stehen zwei Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Warum?
Meiner Meinung nach ist es ein Segen, dass Heranwachsende einen Blick auf die Realität haben, der über den Tunnelblick der Erwachsenen hinausgeht. Erwachsene haben sich überwiegend mit den Regeln der Gesellschaft, in der sie aufgewachsen sind, abgefunden. Sie akzeptieren sie, um ihre Ruhe zu haben. Junge Menschen hingegen haben noch ein Gespür für die Risse und Unstimmigkeiten in einer Gesellschaft, die versuchen, sie einzuengen. Francesca und Maddalena, die gar nichts anderes kennen als ein faschistisches Regime, sind mit einem kritischen Blick gesegnet, mit einem Gespür dafür, wie befreiend Ungehorsam sein kann.

Sowohl Francesca als auch Maddalena sind Opfer einer Gesellschaft, die von Religion und Patriarchat geprägt ist. Was bringt Menschen dazu, Freiheit geschlechtsspezifisch zu definieren?
Das ist alles eine Frage der Erziehung. Wir leben in einer Gesellschaft, die nur so strotzt vor Stereotypen und eine besondere Grausamkeit an den Tag legt, wenn es darum geht, uns entsprechend zu erziehen – und das, noch ehe wir auch nur gelernt haben, zu sprechen. Das sieht man überall: rosa und hellblaue Schleifchen, Puppen und Spielzeugautos, Spiele und Farben, die uns einzig und allein aufgrund des Geburtsgeschlechts zugeschrieben werden.
Es gibt viele Bücher, die sich damit beschäftigen, wie solche geschlechtsspezifischen Stereotypen die Erziehung von Anfang an beeinflussen. Alessia Dulbecco schreibt in ihrem Essay, „Si è sempre fatto così“ („Das war schon immer so“, nicht auf Deutsch erschienen), der neulich bei Tlon herauskam: „Jedes Mal, wenn wir mit unseren Aussagen Schwäche mit Weiblichkeit assoziieren, zementieren wir einerseits das Stereotyp der zerbrechlichen, schwachen, vom Mann abhängigen Frau und erinnern andererseits die Jungen daran, dass es nichts Schlimmeres gibt, als ihre Macht, ihre Privilegien, aufgeben zu müssen …“ Von klein auf wird uns eingebläut, dass die Welt klare Grenzen kennt, nämlich die des Patriarchats. Wenn wir älter werden, haben alle die Aufgabe, diese zu sprengen und vor allem neuen Generationen eine Sichtweise ohne Konditionierungen und Stereotypen nahezubringen.

Erst durch Maddalena lernt Francesca, sich gegen den von ihr erwarteten Gehorsam aufzulehnen. Inwieweit braucht es Vorbilder, um sich bestehenden Verhältnissen zu widersetzen?
Francesca spürt, dass sie in einem Leben feststeckt, das sie einengt. Aber ohne Maddalena würde sie sich nicht in Ungehorsam üben. Maddalena fungiert als Katalysator, dank ihr macht sie den ersten Schritt. Das muss auch so sein, denn ohne sie würde Francesca, die gewohnt ist, vor allem Angst zu haben, das nicht schaffen. Wir brauchen ein Gemeinschaftsgefühl, Beispiele, Vorbilder und Stimmen, die uns dazu auffordern, die Umstände, in denen wir leben, ja uns selbst, zu hinterfragen. Das Risiko für unsere Gesellschaft besteht darin, in einer Blase zu bleiben, nie über den Tellerrand hinauszuschauen. Wir brauchen jemanden, der diese Blase aufsticht, damit wir den Kopf heben und den Blick weiten, unsere Gewissheiten auf die Probe stellen und uns über unsere Situation Gedanken machen.

Schauplatz des Romans ist die Stadt Monza in der Lombardei. Wie kommt es, dass Sie ausgerechnet diese Stadt und Region ausgewählt haben?
Ich bin in Monza geboren und aufgewachsen und weiß aus eigener Erfahrung, wie es ist, zwölf zu sein und in einer Provinzstadt festzustecken. Die Wege, die Francesca zurücklegt, wenn sie den Ponte dei Leoni überquert, wenn sie zum Dom geht, wenn sie den steilsten Hügel im Park hinunterrennt, habe ich auch alle zurückgelegt. Ich habe den Blick zwar in die Vergangenheit gerichtet, auf die 30er-Jahre. Aber das Gefühl von brennendem Ungehorsam ist dasselbe.

Ihr Roman spielt in den 30er-Jahren. Was hat sich seitdem in der italienischen Gesellschaft verändert?
In Italien wurde die „Wiedergutmachung“ einer Vergewaltigung durch Heirat erst 1981 gesetzlich abgeschafft. Und das Gesetz, das in einer Vergewaltigung ein Verbrechen gegen die Person statt eines Verbrechens gegen die Moral sieht, stammt aus dem Jahr 1996. Oft ist uns gar nicht klar, wie neu die Errungenschaften sind, die wir heute für grundlegend und selbstverständlich halten. Im Hinblick auf die 30er-Jahre wäre es deshalb albern zu behaupten, die italienische Gesellschaft hätte sich nicht verändert. Aber die Wurzeln dieser Zeit sind immer noch nicht ausgerottet und spiegeln sich in den patriarchalen Ansichten wider, die unsere Gesellschaft bis heute kultiviert. In dem Aufsatz von Umberto Eco „Der ewige Faschismus“ werden die Archetypen beschrieben, auf die sich der Faschismus berief. Dazu gehören unter anderem: der Kult der Überlieferung, Angst vor dem Andersartigem, keine Kritik annehmen können, der Appell an die Fremdenfeindlichkeit, Machismo. Und Umberto Eco warnt: „Der Ur-Faschismus (oder der ewige Faschismus) kann in den unschuldigsten Gewändern daherkommen. Es ist unsere Pflicht, ihn zu entlarven und mit dem Finger auf jede seiner neuen Formen zu zeigen.“

Wären Sie lieber als Junge auf die Welt gekommen?
Meine Oma hat immer gesagt: „Als Frau ist man im Leben ganz schön eingeschränkt.” Aus ihrer Sicht hat mir der liebe Gott ganz schön was eingebrockt, weil er mich als Mädchen auf die Welt kommen ließ: Ich solle mir von Anfang an klarmachen, dass ich mich mehr anstrengen muss im Leben. Sie hat am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, als Frau in einer Welt zu leben, die ganz auf den Mann ausgerichtet ist. Ich bin dankbar, dass sie mir das Rüstzeug mit auf den Weg gegeben hat, das ich brauchte, um meine eigene Stimme zu finden.
 

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