Aktuelles | 15.10.2024 | Luchterhand Literaturverlag

Über das barocke Leipzig und eine Geschichte aus der Rechtsmedizin, die bis in die Gegenwart reicht

Luchterhand Literaturverlag

Ein Gespräch mit Tore Renberg über seinen Roman »Die Lungenschwimmprobe«

 - Das Buch erscheint am 23. Oktober. Der Autor ist zu Gast auf der Frankfurter Buchmesse, im Anschluss ist er auf große Presse- und Lesereise in Leipzig, Halle, Berlin, Rostock und Kiel - 

 

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Wie bist du als norwegischer Autor überhaupt auf diese sehr deutsche Geschichte gekommen?

Dafür müssen wir in den Januar 2018 zurückgehen. Ich war damals mit den Recherchen für ein Theaterstück beschäftigt und hospitierte in der Pathologie unseres hiesigen Krankenhauses. Dort traf ich einen Autopsie-Techniker, der meinte: Warum schaust du nicht in dieses Buch über Gerichtsmedizin, um dir einen Überblick über unsere Arbeit zu verschaffen. Prima Idee! Ich nahm das Buch mit nach Hause, und auf der ersten Seite stand: Bis heute ist es üblich, die Geburt der modernen Rechtsmedizin auf das Jahr 1681 zu datieren, als ein deutscher Arzt namens Johannes Schreyer die Lungenschwimmprobe durchführte, um herauszufinden, ob ein Säugling vor oder nach der Geburt gestorben war und dadurch schließlich das Leben eines fünfzehnjährigen Mädchens rettete.  

Ich schauderte. Die Geburt der modernen Rechtsmedizin, was für ein seltsames und poetisches Wort: die Lungenschwimmprobe – und diese Geschichte: Das Leben eines Mädchens, das gerettet wird. Ich fing sofort an zu googeln, aber die Informationen waren spärlich. Ich fand ein paar Artikel über den Test und einige sehr vage Informationen über das Mädchen, die sächsische Tochter eines Gutsherren in Sachsen, Anna Voigt, die des Mordes an ihrem Kind bezichtigt wurde, ein Verbrechen, nicht unüblich in jenen Zeiten, gewöhnlich mit dem Tode bestraft. Aber das war alles. 

Woher stammte diese Information? Was war damals geschehen? 

Ich hing am Haken wie ein Fisch an der Angel. Diese ganz besondere Geschichte war irgendwie untergegangen, ich musste sie ausgraben. Es gab keine Romane darüber, keine Fernsehserie. So gut wie nichts. Nach einigen Wochen stieß ich auf zwei Originalquellen: eine dreißigseitige Abhandlung, geschrieben vom Arzt, Herr Schreyer, über Die Lungenschwimmprobe, und hundert Seiten, geschrieben vom Anwalt des Mädchens, der sich als kein anderer herausstellte als der Wegbereiter der deutschen Aufklärung, Christian Thomasius aus Leipzig! Ich konnte es kaum fassen. 

Okay, dachte ich, dies ist ein Roman, Tore, und ein ganz spezieller. Du wirst dich mit der deutschen Sprache des siebzehnten Jahrhunderts beschäftigen müssen, du wirst dich mit einer Gesellschaft beschäftigen müssen, die weit entfernt von deiner eigenen ist, und versuchen müssen, dieser ganz erstaunlichen Geschichte auf die Spur zu kommen, und es wird eine Mordsarbeit sein. Natürlich ist Die Lungenschwimmprobe eine «sehr deutsche Geschichte». Sie spielt in einem sehr deutschen Kontext – mit sächsischen Besonderheiten – und ist besonders interessant für deutsche Leser und Leserinnen. Um ein Beispiel zu nennen: der Dreißigjährige Krieg. Dieser brutale und in vielerlei Hinsicht historisch einzigartige Krieg, was wissen wir heute noch über ihn? Was waren die Folgen von dreißig Jahren extremer Gewalt auf rein deutschem Boden, in die fast jeder größere Staat Europas verwickelt war, nicht zuletzt die nordischen Supermächte Schweden und Dänemark-Norwegen? 

All das ist hochinteressant für jeden, der sich mit deutscher Geschichte und Kultur beschäftigt, und ich hoffe, dass ich nicht wie irgend so ein Fremdling klinge, der sich als Spezialist in Ihrem Land aufführt, aber dies ist auch eine europäische Geschichte. Wir waren da. Wir überfielen Ihr Land mit unseren Armeen – was heutzutage vollkommen lächerlich klingt.  

Also, was ich eigentlich sagen will: Je länger ich an diesem Projekt arbeitete, desto mehr realisierte ich, dass diese Geschichte sich – wie jede große Geschichte – um grundlegende menschliche Handlungen dreht, die jedermann erfassen kann und die jedermann zugänglich sind. Das ist ja das Wunderbare am Lesen und Schreiben; man kann dabei Geschichten begegnen, die in einer fernen Zeit spielen -sagen wir der Bibel-, und plötzlich findet man sich darin selbst wieder. Literarische Hexerei.  

Was fasziniert dich an der Geschichte? Welche Figur ist dir am nächsten?

Zuerst waren es die zugrundeliegenden, schrecklichen Fakten: Die gesellschaftlichen Institutionen – Staat, Kirche, Gesetzgebung – sind hinter deiner Tochter her. Sie haben Zugriff auf den Scharfrichter, und es ist ein scharfes Schwert, das sie da in ihren Händen halten. Ich bin selbst Vater, meine Petra war zu diesem Zeitpunkt fünfzehn. Ich nahm es persönlich, es war wie: Wenn du meine Tochter anrührst, bekommst du es mit mir zu tun. Dies, denke ich, ist immer der beste Ausgangspunkt für ein literarisches Projekt – dass das Material in Verbindung zu deinen eigenen Emotionen steht. Dies verleiht dem Text Dringlichkeit und Authentizität.

Dazu kam, dass das siebzehnte Jahrhundert eine zunehmende Faszination auf mich ausübte. Die vielleicht dunkelste Periode unserer Geschichte, auf brutale Weise zerrissen vom Dreißigjährigen Krieg, sozusagen der Tiefpunkt der Zivilisation – aber es ist auch eine Zeit wachsender Hoffnung gewesen, der modernen Wissenschaft, der aufkommenden Aufklärung: Während ich mich durch Tausende von Seiten wühlte und mir dabei Notizen machte, entwickelte sich die Geschichte der Anna Voigt zu einer Geschichte des Westens. All diese Dinge, die wir heutzutage für selbstverständlich halten, Kinderrechte, Frauenrechte, die Gedanken- und Meinungsfreiheit, haben ihre Geburtsstunde im Wesentlichen in jener Zeit, in der mein Held, der mutige Thomasius, eine zentrale Rolle spielte. Er ist wirklich eine Figur, auf die Sie sehr stolz sein sollten, ein Mann und Aktivist, der es wert ist, in diesen unvernünftigen Zeiten, in denen wir leben, wiederentdeckt zu werden.

Thomasius war ein Mann von aufbrausendem Wesen, rücksichtslos und vielfältig, aufrichtig und humorvoll, und er widersprach jeder Logik der orthodoxen Kräfte dieser Zeit. Er sprach sich lautstark und scharfzüngig gegen die Folter aus, gegen die Hexenprozesse, gegen Vorurteile und jede Art von Missbrauch, und er besaß ein untrügliches Auge für Ungerechtigkeit. Er lechzte nach großen Umbrüchen und Reformen.

Wie hast du recherchiert? Was ist wahr? Was erdichtet? Warst du vor Ort?

Oh mein Gott, ich habe Tausende von Seiten gesichtet und war siebenmal in Sachsen. Ich war in den Archiven, den Museen, in den Kirchen kleiner Orte wie Pegau, um Einblick in die Kirchenbücher zu erhalten und Informationen zu sammeln … Und ich hatte dabei absolut großartige Helfer zur Seite, die mich in meinem Projekt unglaublich geduldig und enthusiastisch unterstützten. Wunderbare Wissenschaftler von der Universität Halle, den Thomasius-Experten Dr. Hambrock, Dr. Grunert, Dr. Thiele und Dr. Kühnel. Fast beschämt es mich, wie viele E-Mails ich ihnen geschrieben habe. Unglaublich freundliche und kompetente Leute!

Was die literarische Methode angeht, habe ich versucht, so genau wie möglich zu sein, falls ich die entsprechenden Fakten an der Hand hatte. Ich bin Thomasius’ Erinnerungen an sein Leben als Anwalt gefolgt, und wo ich keine Informationen zur Verfügung hatte, habe ich versucht, vergleichbare Informationen zu finden. Und dann habe ich das getan, was ich am besten kann: die Phantasie fließen lassen, die Figuren zum Leben erwecken und die Lücken füllen. Um ein Beispiel zu nennen: Wir wissen eine Menge über das Gerichtsverfahren, dank Christian Thomasius’ Juristischen Erinnerungen aus dem Jahre 1720. Erwartungsgemäß natürlich ein ziemlich nüchterner Text. Er schreibt so gut wie nichts darüber, wie Anna aussieht oder über sie als Person. Aber er bezieht sich auf ihre Aussagen vor Gericht, und hier und da gibt er kleine Hinweise auf ihre Persönlichkeit. Wie etwa: Wir werden darüber informiert, dass sie bockengrübig ist. Das bedeutet in der Sprache des Barock, dass sie die Pocken hatte. Wir können uns also ihr Gesicht vorstellen! Thomasius erwähnt auch Begegnungen mit ihr: Danach war sie ein recht einfaches und dummes Mädchen. Aber nachdem er öfter mit ihr gesprochen hat, meint er: Also, dieses junge Mädchen, das kann wirklich für sich selbst einstehen, nicht übel, wirklich gar nicht übel. Mit anderen Worten: Dies ist eine intelligente junge Frau. Solcher Art waren die Hinweise, aus denen ich einen Charakter formen konnte.

Anfangs war es nicht leicht, das Rittergut zu finden, auf dem sie aufwuchs, aber schließlich stieß ich auf jene blühende Landschaft entlang der Weißen Elster – und auf das entsprechende Dorf, das heute Elstertrebnitz heißt. Es verschlug mir den Atem, als ich das erste Mal auf die Überreste des ehemaligen Anwesens stieß und mit meiner Assistentin Andrea Thiele dort stand, wo alles begonnen hatte: Dies war der Garten, in dem sie und ihre Schwester gespielt hatten, dies war der Ort, an dem sie ihr Kind zu Welt gebracht hatte, wo es begraben und gefunden wurde. Hier war es, wo dieser tragische Fall seinen Anfang nahm.

Was kann uns diese »alte« Geschichte heute sagen? Gibt es Erzähllinien bis in die Gegenwart? 

Wie immer lehrt uns die Geschichte zwei Dinge. Erstens: Wir haben uns nicht groß geändert, der Kontext mag ein anderer sein, unsere Handlungen bleiben sich gleich. Zweitens: Wir haben erschreckend wenig gelernt. Wenn mein Held Christian Thomasius uns heute einen Besuch abstatten würde, würde er ausrufen: Mein Gott! Wirklich? Krieg? Gibt es hier keinen mehr mit einem klaren Kopf? Kritisches Denken! Ich habe den Weg für euch geebnet, warum habt ihr mir nicht zugehört? 

Wenn er die Abtreibungsgesetze in einigen Ländern der USA sehen würde, wenn er sehen würde, wie die Lungenschwimmprobe von gewissen Gerichten missbraucht wird, dann wäre er in Rage. Wenn er hören würde, dass es Orte auf der Welt gibt, in denen immer noch gefoltert wird, wenn er von fake news hören würde oder missbrauchten Frauen – nun, dann würde er erneut den Kampf aufnehmen. Das Ganze sagt uns also noch etwas: Never stop fighting! Hör niemals auf zu kämpfen! Mein Roman mag zwar von düsteren Zeiten erzählen, aber für mich ist er vor allem ein Roman der Hoffnung.

Welche Verbindungen zu Deutschland hast du überhaupt? Woher kommt es, dass du so gut deutsch kannst?

Oh, vielen Dank. Ich kann bestätigen, dass ich besser lese und schreibe, als ich rede! Ich habe Familie in Deutschland; die Schwester meiner Großmutter heiratete einen deutschen Soldaten und zog 1945 nach Dresden und später dann nach Berlin und Westfalen. Ich war von Kleinauf an Deutschland interessiert und mag dieses Land sehr; die Sprache, die Städte und Dörfer, die Literatur, die Musik (Nena! Kraftwerk! Und natürlich der große Johann Sebastian Bach!). Und ich sollte vielleicht noch erwähnen, dass ich 1998 und 1999 dank eines Stipendiums mehrere Monate in Berlin gelebt habe. Ich bin ein begeisterter Leser der großen deutschen Klassiker; Thomas Mann ist einer meiner Lieblinge; was für eine Beobachtungsgabe, was für ein Humor, welch Sensualismus und profunder Humanismus. Und diese Sätze! 

Du bist ein Autor, der ungeheuer vielseitig ist. Ist es dein erster historischer Roman? Werden weitere folgen?

Ich kann bestätigen, dass ich ziemlich neugierig bin. Wenn ein Material Besitz von mir ergreift, tendiere ich dazu, mich vereinnahmen zu lassen. Ich habe diese literarische Methode entwickelt, bei der ich versuche, die Sprache und die Stimme jener Menschen zu finden, über die ich schreibe. Am Anfang meiner Karriere habe ich die üblichen autobiographischen Romane verfasst, aber nach einigen Jahren habe ich meine eigene Stimme und mein eigenes Leben als immer weniger interessant empfunden und wurde zunehmend interessierter an anderen; vielleicht eine Folge des Älterwerdens? Ich tendiere heute dazu, mein Leben als Schriftsteller als eine Art Recreation-Center zu betrachten und mich selbst als eine Art Krankenpfleger: Willkommen, bei mir werdet ihr die Aufmerksamkeit und Fürsorge bekommen, die ihr braucht!

Dieses Mal war ich mit einigen Herausforderungen konfrontiert – das Barock! – , die aber auch Vorteile enthielten: welch wundervolle Epoche, um sich mit der Sprache zu beschäftigen, und ich konnte die großartige literarische Vielfältigkeit jener Zeit nutzen. Es fühlte sich sehr befreiend an. Was neue Projekte betrifft: Ich weiß jetzt ziemlich viel über diese erstaunliche Epoche. Ich habe fünfeinhalb Jahre recherchiert und geschrieben. Es würde mich also überraschen, wenn ich mich nicht noch weiter hineinwagen würde … Okay, ich gestehe: Ich bin auf eine weitere phantastische Ge - schichte aus dieser Periode gestoßen, und ich bin am Recherchieren, wieder einmal… Ein Schriftsteller sollte nie zu viel versprechen, aber man kann sagen, dass ich es versuchen werde, einen Roman darüber zu schreiben. Ja, das werde ich!

Zum Schluss vielleicht noch eins: Seit jenem Januar 2018 habe ich jeden Tag davon geträumt, dass dieser Roman eine Chance bekommt, in Deutschland zu erscheinen. Es ist eine Ehre, dass er nun bei Luchterhand erscheint, und schrecklich aufregend. Dies ist Ihre Geschichte, Ihr Land, und ich bin mir dessen wohl bewusst. Ich hoffe, dass mein Roman die Leser und Leserinnen gefangen nehmen wird und dass ich Ihrer Geschichte den Respekt gezollt habe, den sie verdient. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass dieser Norweger so gründlich war, wie er nur konnte.

 

Das Gespräch führte Regina Kammerer, Verlagsleiterin von Luchterhand und btb

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