»Sich schwer aus ihnen lösen zu können, ist ein Merkmal ungesunder Beziehungen. Sie halten einen gefangen«
Terézia Mora im Interview über ihren Roman »Muna oder Die Hälfte des Lebens«
In ihrer Darius-Kopp-Trilogie und in ihrem Debütroman »Alle Tage« sind die Hauptfiguren Männer. Mit Muna, der Hauptfigur in Ihrem neuen Roman »Muna oder Die Hälfte des Lebens«, schaffen Sie erstmals eine weibliche Ich-Erzählerin. Warum diesmal eine Frau?
Leichter ist es auf gar keinen Fall. Im Gegenteil. Wie schon bei der Figur einer 17-Jährigen in »Auf dem Seil«, nach dem Motto: »Ich war schließlich selbst mal 17«, nützte mir die Tatsache, selbst eine Frau zu sein, kaum etwas. Mehr noch: Wie ich über mich selbst lernen musste, trage ich eine Menge internalisierter Misogynie in mir. Ich habe die Figur - die ja ich so geschaffen habe, wie sie ist - zeitweise für Verhaltensweisen und Entscheidungen, ja sogar für Gefühle verurteilt. Ich steckte da so sehr fest, dass ich schließlich den Trick anwenden musste, die ganze Geschichte umzudrehen. Das heißt, nicht die ganze Geschichte, ich habe nur die Hauptfiguren gegeneinander ausgetauscht. Und was geschah? Aus der Frauenfigur wurde eine »Menschenfigur« und ich hatte ein viel besseres Verständnis für sie. Deswegen hat der Roman auch den Untertitel »Die weibliche Variante«. Als Hommage an diese Erfahrung. Wenn man den Roman liest und permanent denken muss, diese Frau ist doch dumm, die macht doch alles falsch, mir würde das nie passieren, empfehle ich, sich vorzustellen, es wäre andersherum. Ein Mann würde all das empfinden, tun, all das würde ihm passieren.
Muna ist eine durchaus ambivalente Figur. Wir lernen sie als intelligente, humorvolle, attraktive junge Frau kennen. Bis sie Magnus begegnet. Im Laufe der Beziehung gibt sie immer mehr von sich auf, nimmt die Aggression des Mannes hin. Wieso fällt es ihr so schwer, sich aus dieser ungesunden Beziehung zu lösen? Woran bemisst sich letztendlich die Freiheit einer Frau?
Wieso fällt es irgendjemandem schwer, sich aus einer ungesunden Beziehung zu lösen? Sich schwer aus ihnen lösen zu können, ist ein Merkmal ungesunder Beziehungen. Sie halten einen gefangen. Natürlich sind sie auch die Antwort auf ein Bedürfnis in uns, häufig auf einen Mangel, für irgendetwas brauchen wir diese Art Beziehungen. Ich habe einmal einen Vortrag von Alain de Botton gehört darüber, dass wir in der romantischen Liebe nach dem gleichen Schmerz suchen, den wir in der Liebe zu unseren Eltern erfahren haben. So wie manche von uns (ich, ehem. Sportschülerin) gelernt haben, dass man Sport nur dann richtig treibt, wenn es weh tut. Irgendwann ist der Körper kaputt und tut von allein weh. Aber zurück zu Muna: Das ist genau der springende Punkt, und ich gebe darauf keine Antwort. Mich verbindet eine gewisse traurige Faszination mit Frauen, die es nicht schaffen ihr Talent, ihr Leben erblühen zu lassen. In den meisten Fällen sehe ich dahinter kein persönliches Versagen, sondern das Wirken von Benachteiligungen, denen misogyne Gesellschaften (also: alle, die wir zurzeit auf der Erde haben) Frauen aussetzen. Möglicherweise kommt Muna nicht los, weil sie denkt, diese Beziehung ist das Beste, das sie bekommen kann. Sie kämpft sogar dafür, dieses angeblich Beste zu bekommen und zu behalten. Manchmal sind wir so. Wir können uns gar nicht vorstellen, dass es uns besser ergehen könnte. Oder, noch schlimmer, siehe internalisierte Misogynie: Möglicherweise verdienen wir einfach nichts Besseres, wenn wir doch so dumm und schwach sind, jemanden zu lieben, der so mit uns umgeht. Etc. etc. Es gibt viele, viele mögliche Antworten. Ich kann sie unmöglich alle vorwegnehmen.
Was hat sie an Muna als Figur besonders gereizt?
Ich trage sie schon sehr lange in mir herum. Flora in den Darius-Kopp-Romanen ist eine Vorläuferin von ihr. Siehe oben: Mich treibt die Geschichte von Frauen um, die es »nicht schaffen«. Die Frage danach, was ein «erfolgreiches Leben« sei. Wenn ich es recht überlege, gilt das auch für meine Männerfiguren. Sie schaffen alles nur unter Mühen, mit Umwegen, sie lernen langsam, durch Schmerzen. Möglicherweise denke ich, dass so unser Leben ist. Dazu kamen bei Muna noch die Beobachtungen in meinem Umfeld, so wie bei allen anderen Büchern bislang auch. Die noch so kleinen Anzeichen von Beziehungsgewalt ebenso wie von Machtmissbrauch im beruflichen Umfeld haben mich immer sehr irritiert. Im Roman habe ich eine Auswahl davon verarbeitet und selbstverständlich so konstruiert, dass vom Vorbild in der Wirklichkeit »kein Stein auf dem anderen« geblieben ist. Das wäre auch nicht notwendig gewesen, denn es handelt sich um typische Situationen.
Muna scheint anfangs auf den Weg in eine gelingende geisteswissenschaftliche Karriere zu sein. Die Themen, mit denen sie sich befasst, könne man im weitesten Sinne den Gender Studies zuordnen. Sie forscht z.B. über »Weiblichkeitskonstruktionen und Erinnerungskulturen«. Auch später ist sie immer wieder an Projekten beteiligt, die die Anerkennung und Emanzipation von Frauen in den Mittelpunkt stellen. Wie ist es möglich, dass sie weiterhin blind für ihr eigenes Schicksal ist?
Tja, das ist das Rätsel, nicht wahr? Wir können davon ausgehen, dass die Autorin das absichtlich so gemacht hat, um eine Spannung zu erzeugen. Die Texte, auf die dabei Bezug genommen wird - siehe z.B. Ada Christen - sind auch nicht zufällig gewählt. Wie wir alle wissen, besteht häufig eine Diskrepanz zwischen dem, was wir wissen, dem, was wir fühlen und dem, was wir tun.
Der Roman beginnt 1989, im Jahr des Mauerfalls. Heute verfügen wir über Begriffe wie »toxische Beziehung«, »toxische Maskulinität«, #MeToo. Glauben Sie, Muna wäre jetzt vor einer obsessiven, destruktiven Beziehung besser geschützt, oder ist dieser Gedanke zu optimistisch?
Ich teile diesen Optimismus im wahren Leben durchaus. Ich denke auch, dass wir unseren Töchtern etwas anderes sagen und etwas anderes vorleben als unsere Mütter und Großmütter uns. Dennoch kann man sich natürlich nicht vor allen Eventualitäten schützen. Es wird immer die geben, die ihre Macht missbrauchen, es wird immer die Manipulatoren geben, die Narzissten, die Egoisten. An manchen Tagen kann man das Gefühl haben, ausschließlich mit solchen zu tun zu haben und man fragt sich: Wohin sind die Redlichen verschwunden, die, die nicht perfekt, aber wenigstens guten Willens sind?
Es ist allerdings ziemlich wahrscheinlich, dass die Autorin dann weiterhin nicht über die gelungenen Beziehungen schreiben wird, sondern darüber, wenn es irgendwo ein Problem gibt. So ist es nun einmal mit Erzählungen. Wir fangen sie meist aus einem Unbehagen heraus an.
Fragen von Elsa Antolín und Martina Klüver / Luchterhand Literaturverlag
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Karsten Rösel