Wladimir Kaminer ist ein Familienmensch. Doch der Urkosmos des menschlichen Miteinanders befindet sich im Wandel: Kinder werden erwachsen, Eltern alt, das Verhältnis der Generationen muss beständig neu austariert werden. In „Rotkäppchen raucht auf dem Balkon“ schildert Wladimir Kaminer mit Liebe, einem Anflug von Wehmut und seinem untrüglichen Gespür für die komischen, absurden Begebenheiten des Alltags Szenen aus dem Leben seiner Familie. Dabei lässt er augenzwinkernd spüren, was es heißt, zugleich als Vater, Sohn und Ehemann zwischen allen Stühlen zu sitzen – im Versuch, dabei das Gleichgewicht zu behalten...
Als der 88. Geburtstag von Wladimir Kaminers Mutter heranrückt, wünscht diese sich einen Besuch ihrer Enkelin Nicole. Freiwillig, versteht sich. Ihr Argument: Auch Rotkäppchen habe sich ohne Widerrede auf den Weg zu seiner geliebten Großmutter gemacht. Ebenso versteht sich, dass am Festtag Nicole erscheint – mit Piercing, blaugrün gefärbten Haaren und Zigaretten für die Raucherpause auf dem Balkon.
Ihr Bruder Sebastian ist unterdessen ganz mit der Suche nach sich selbst beschäftigt, zur wachsenden Verzweiflung seines Vaters jedoch nicht in einer Ausbildung oder beim Studium, sondern zu Hause zwischen Küche und Computer. Kritik kontert der tiefenentspannte Filius mit Weisheiten von Laotse, darunter: „Nichtstun ist besser, als die Arbeit eines anderen zu übernehmen.“
Der Lethargie der Heranwachsenden, die alles könnten, aber wenig wollen, steht die Abenteuerlust der Senioren gegenüber, die fast nichts mehr können, aber die Welt erobern wollen. Fernreisen, Konzertbesuche, Museumstouren werden geplant – und nebenbei die Pflegestufe beantragt.
Dazwischen stehen Wladimir Kaminer und seine Ehefrau Olga. Staunend blicken sie in beide Richtungen und sehnen sich manchmal zurück in eine Zeit, in der ihr Nachwuchs jünger war und sie seine Träume teilten. Von dieser Ära zeugen im Keller ein kaputtes Schlauchboot, mit dem man im Sommer die Seen um Berlin unsicher machen wollte, der Karateanzug Nicoles aus ihrer Kill-Bill-Phase und ihre Gitarre für die Mädchenband. Was ist geblieben? Heute besitzen die Kinder Leitz-Ordner für Handyerträge, schwören dem billigen Fusel ab, der früher zu jeder Party gehörte, und diskutieren über Genderfragen.