Aktuelles | 26.04.2021 | Mosaik Verlag

Roland Paulsen im Interview

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Warum fühlen wir uns schlechter, obwohl wir besser leben als je eine Gesellschaft zuvor? Was macht unser Leben heute komplizierter? Und warum sind Angststörungen und Depressionen gerade jetzt auf einem Höchststand? Dem geht der schwedische Soziologe Roland Paulsen in seiner klugen Analyse der Angst auf den Grund. 

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Cover

Lieber Herr Paulsen, können Sie bitte kurz beschreiben, worum es in Ihrem Buch Die große Angst geht?

In meinem Buch geht es um ein Rätsel, vor dem Sozialwissenschaften und Medizin gleichermaßen stehen: Trotz des zivilisatorischen Fortschritts verbessert sich unser psychisches Wohlbefinden nicht. Es gibt viele wichtige Gründe, sich dieses Rätsel genauer anzusehen. 2017 meldete die Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass das, wovor sie schon lange gewarnt hatte – und was sie noch ein paar Jahre zuvor für das Jahr 2030 prognostiziert hatte – bereits eingetreten ist: Die weltweit führende Krankheitsursache sind nicht mehr somatische Erkrankungen, sondern Depressionen. Innerhalb von zehn Jahren ist die Anzahl der Menschen, die an einer Depression leiden, um fast 20 Prozent gestiegen. Die verschiedenen Angststörungen (die ebenfalls zugenommen haben) übersteigen zusammengefasst sogar die Depressionserkrankungen. Wenn „sich schlecht fühlen“ einfach zum Leben gehört, dann scheint dieser Teil des Lebens aber immer mehr Raum einzunehmen. Man kann die hohen Zahlen mittlerweile nicht mehr darauf schieben, dass wir nach „sozialen Konstruktionen“ messen und auch nur danach über unser Wohlbefinden urteilen. Alle verfügbaren Statistiken weisen in dieselbe Richtung: Es geht uns psychisch immer schlechter. Um dieses Rätsel zu durchleuchten habe ich für mein Buch viele Menschen zu ihren persönlichen Angsterfahrungen befragt und das relevanteste empirische Material aus den Sozialwissenschaften zusammengetragen.

Sind wir in Europa ängstlicher als anderswo auf der Welt? Sind Deutsche besonders ängstlich? Es gibt ja das Phänomen „German Angst“.

Es gibt mehrere Studien, die zeigen, dass Sorgen und Ängste von Land zu Land variieren. Eine der gründlichsten Studien ist die „World Mental Health Survey“ der WHO, die repräsentative Stichproben von Ländern rund um den Globus verwendet und sich auf strukturierte Interviews und geschulte Interviewer stützt. Anhand von Studien wie dieser kann man sehen, wie sich die Häufigkeit von Angststörungen zwischen den einzelnen Ländern unterscheidet – und zwar unabhängig von der Quote der Menschen, die in Krankenhäusern und Beratungsstellen Hilfe suchen, die weniger repräsentativ ist. Was wir sehen, ist ziemlich erstaunlich: In Hochlohnländern treten mit Ausnahme der Trennungsangst alle gemessenen psychischen Störungen häufiger auf. Wenn es um generalisierte Angststörungen, Panikstörungen und soziale Ängste geht, ist die Häufigkeit im Vergleich zu Niedriglohnländern fast dreimal so hoch. Das deutet auf einen fundamentalen Unterschied in den verschiedenen Erdteilen hin.

Warum bedeutet der wirtschaftliche Erfolg eines Landes, dass der Einzelne zwar mehr Glücksgefühle erlebt, aber gleichzeitig weniger Sinn im Leben?

Ich denke, dass der Unterschied zwischen Glück und Sinn wichtig ist. Wir sind innerlich gespalten in Teile, die eher zufrieden oder unzufrieden sind, froh oder traurig, glücklich oder unglücklich. Aber da ist auch etwas in uns, das mehr will: Es will wissen, was der Sinn unseres Lebens ist und ob wir zu einem größeren Ganzen gehören. So wie die Ängste schwanken, so schwanken die Sozialwissenschaften auch beim Deuten dieser Studienergebnisse. In meinem Buch versuche ich, diesen Zahlen auf den Grund zu gehen, ohne über die Ursachen zu spekulieren, über die wir sehr wenig wissen. Es reicht aus, wenn wir feststellen, dass die allgemeine Vorstellung davon, was sozialer Fortschritt bedeutet, trügt. Wenn Menschen in Hochlohnländern depressiver und ängstlicher sind und weniger Sinn im Leben erfahren, müssen wir hinterfragen, was wir unter „Fortschritt“ und „Glück“ verstehen.

Wenn der Mensch kein Gehirn hätte, würde er von „wilden Tieren“ gefressen werden (oder durch Wetterumschwünge, Insektenstiche, Verletzungen und Krankheiten getötet). Mit seinem Gehirn isst er sich aber quasi selbst auf – durch Angsterkrankungen, Zwangsvorstellungen und Depressionen, die zum Suizid führen können. Ist die Spezies Mensch dem Untergang geweiht?

Die historischen und geografischen Variationen der Angststörungen suggerieren das Gegenteil. Aus meiner Sicht ist es ein Irrtum, das Problem der Angst als ein existenzielles Problem zu betrachten, als würde Angst einfach zum Menschen dazugehören. Es gibt viele anthropologische Beispiele von Gesellschaften, in denen die Ängste und Obsessionen, die wir heute sehen, nicht beobachtet werden konnten. Sogar Depressionserkrankungen, die uns so selbstverständlich erscheinen, kommen in manchen Kulturen kaum vor. Und um ein weiteres Beispiel zu nennen: Alkoholabhängigkeit ist historisch gesehen wahrscheinlich recht neu, und sie erreichte in Europa erst im 18. Jahrhundert mit dem Konsum von Gin epidemische Ausmaße. Wir müssen uns also nicht nur das ansehen, was im individuellen Gehirn passiert, sondern auch das, was zwischen den Menschen geschieht. Wenn wir das tun, erkennen wir schnell, dass man auch anders leben und dadurch weniger Angst haben kann.

Sie schreiben, dass die Menschen von heute davon besessen sind, Risiken zu kalkulieren und zu vermeiden. Warum ist das so?

Das hängt mit unserer Entwicklung zusammen. In den Jäger-Sammler-Gesellschaften spielte das Messen der Zeit keine große Rolle. Erst mit dem Einzug der Landwirtschaft und späterer Technologien wurde es notwendig, für die Zukunft zu planen, und so entstand das zeitzentrierte Denken. Wir haben angefangen, uns immer mehr mit der Zukunft zu beschäftigen, und wir versuchen sogar die Zukunft vorherzusagen, indem wir in Begriffen von Ursache und Wirkung über alles nachdenken, was passieren könnte. Die Berechnung des Risikos wäre ohne dieses Denken nicht möglich. Wir sind aber auch deshalb so besessen vom Risiko, weil die Gefahren immer abstrakter werden. In traditionellen Nomadengesellschaften musste man im gegenwärtigen Moment aufmerksam sein, um Risiken auszuweichen. Die Risiken, mit denen wir heute konfrontiert sind, sind für unsere Sinne meist nicht mehr wahrnehmbar. Nehmen wir den Klimawandel oder die Ausbreitung eines Virus, so ist die einzige Möglichkeit, etwas über das Risiko zu erfahren, sich auf die Wissenschaft zu verlassen oder auf das, was Experten sagen. Das Risiko wird also viel abstrakter und komplizierter als früher und so entsteht mehr Raum für kontrafaktisches Denken und für die Fantasie. Dies und die ethische Vorstellung, dass es besser ist, Risiken zu vermeiden als Risiken einzugehen, feuert die Risiko-Obsession an.

Warum hat der zivilisierte Mensch Angst davor, unbewusst ein falsches Leben zu führen oder nicht authentisch zu leben? Warum misstraut er dem Leben und sich selbst?

Mit dem Durchbruch der modernen Psychologie verlagerte sich der Fokus unseres Kontrollbedürfnisses von den äußeren auf die inneren Risiken. Vor allem mit der Vorstellung eines Innenlebens und von Teilen von uns - seien es gereizte Nerven, unbewusste Triebe oder chemische Gleichgewichte im Gehirn -, die fehlerhaft sein könnten, ohne dass wir es merken, wurde ein neuer fruchtbarer Boden für das Risikodenken geschaffen. Die psychoanalytische Vorstellung, dass wir jenseits unserer eigenen Vorstellungen pervers sein könnten, hat Selbstverdächtigungen den Weg bereitet, die bis dahin eher selten waren. Heute wird das, was wir in unserem eigenen Innenleben alles vermuten können, nur durch unsere eigene Vorstellungskraft in Zaum gehalten. Und so entstehen Fragen wie: Wie kann ich wissen, ob ich einen Menschen wirklich liebe? Woher weiß ich, dass ich nicht unbewusst bösartige Gefühle habe, dass ich nicht psychisch krank, pervers oder ein Psychopath bin? Fragen wie diese können zu einer starken Entfremdung führen, aber auch eine Sehnsucht nach Authentizität erzeugen.

Sie schreiben, dass viele Menschen lieber zur Arbeit gehen, anstatt sich ihrem Privatleben zu widmen. Warum ist das so, und wie passt das mit dem seit der Corona-Epidemie aufgekommenen Wunsch vieler zusammen, lieber im Homeoffice zu arbeiten?

Ich würde nicht sagen, dass dieses Muster für alle Arbeitnehmer gleichermaßen gilt. Aber in Jobs, in denen Mitarbeiter vor die Alternative gestellt wurden, entweder weniger zu arbeiten oder ein höheres Gehalt zu bekommen, haben sich viele für das höhere Gehalt entschieden, obwohl es mit noch weniger Zeit für ihre Familien einherging. Der amerikanischen Soziologin Arlie Hochschild zufolge fühlen sich viele Menschen bei der Arbeit wohler als zu Hause. Wir sind sehr gut darin geworden, strikt nach Zeitplan zu arbeiten und wenig Eigeninitiative an den Tag zu legen. Im Gegensatz dazu ist das Zuhause oder die Familie oft mit Schuldgefühlen und Ängsten konnotiert. Meiner Meinung nach liegt das daran, dass die moderne Sozialisation vor allem darauf abzielt, gute Arbeiternehmer heranzuziehen. Beispiele dafür sehen wir aktuell in diesen Corona-Zeiten. Obwohl viele zufrieden sind, von zu Hause aus arbeiten zu können, nimmt weltweit die häusliche Gewalt zu. Es ist wie mit dem Phänomen steigender Scheidungsraten in den Ferien: Man sieht das Problem erst, wenn das eng geschnürte Korsett des Arbeitslebens gelockert wird.

Sie schreiben, es sei erwiesen, dass die Menschen in erster Linie an sich selbst denken. Wie können wir uns für etwas so Großes wie den Klimawandel verantwortlich fühlen, wenn der menschliche Geist einen so engen Fokus hat?

Ich glaube nicht, dass Menschen von Natur aus egoistisch sind. Ich beschreibe nur, dass die Angststörungen, die sie dazu bringen, sich Hilfe zu suchen, eher mit Risiken und Ängsten zu tun haben, die das Privatleben betreffen. Die wenigsten gehen in eine psychiatrische Praxis, weil sie Angst vor einer Pandemie oder vor dem Klimawandel haben. Die Risiken, über die wir uns wirklich Sorgen machen, sind eher privater Natur und haben auch viel mit dem Gefühl der Scham zu tun. So funktionieren Sorgen und Ängste nun mal. Eine grundlegende Botschaft meines Buches ist aber, dass wir uns nicht von Sorgen und Ängsten leiten lassen sollten. Angst ist kein guter Ratgeber, und deshalb sollten auch politische Entscheidungen nicht auf einer Angstbasis getroffen werden, sondern nach ethischen Prinzipien und positiven Vorstellungen davon, wie wir leben wollen.

In Ihrem Buch beschreiben Sie eine Politik, die eigentlich nur verwaltet, und eine Weltbevölkerung, die unter Depressionen, Ängsten, Einsamkeit und Überforderung leidet. Wenn selbst eine globale Katastrophe wie die Corona-Pandemie zu keinem Neuanfang führt - was dann?

Der Klimawandel ist ein noch besseres Beispiel für eine Katastrophe, die dringende Maßnahmen erfordert und dennoch nicht genug Einfluss auf das kollektive Handeln zu haben scheint. Das beweist, dass die Politik zwar immer mehr nach dem Prinzip der Risikovermeidung handelt, dass sie aber im Grunde nichts weiter tut, als den Ist-Zustand zu verwalten. Immer wenn es darum geht, bestimmte soziale oder wirtschaftliche Prämissen zu ändern, scheint die Angst vor einer zukünftigen Katastrophe nicht auszureichen, um die Menschen zu mobilisieren. Es ist, als wären wir so besessen von dem, was wir vermeiden wollen, dass wir vergessen haben, was wir erreichen wollen.

Welches Lebensmodell halten Sie für sinnvoll und auch ethisch vertretbar? Leben Sie selbst danach? Und wenn nicht, warum?

Bei den großen politischen Reformen, die nach wie vor von unschätzbarem Wert sind - die Ausweitung des demokratischen Wahlrechts auf größere Teile der Bevölkerung oder der Ausbau sozialer Sicherheitssysteme -, hat man sich nicht von der Angst vor dem Risiko leiten lassen. Wann immer wir eine Diskussion darüber hatten, ob Frauen, arme Menschen oder Menschen mit Behinderungen ebenfalls das Wahlrecht haben sollten, gab es konservative Gegner, die den sozialen Niedergang kommen sahen. Am Beispiel dieser Reformen sieht man aber sehr gut, dass man sich dafür entscheiden kann, Risiken einzugehen, um einer höheren Sache zu dienen. Dieses Prinzip können wir auch zu unserer eigenen Lebensmaxime machen: Wollen wir ethischen Werten folgen oder Risiken kalkulieren und vermeiden? Manchmal kann man beides miteinander verbinden, manchmal muss man sich aber entscheiden. Leider gelingt es mir selbst nicht immer, kluge Entscheidungen zu fällen. Ich denke, es ist einfach eine Frage des Mutes, und Mut ist kein Gefühl, sondern eine Art, gegen die eigenen Ängste zu handeln.

Zu guter Letzt: Sie haben sich jahrelang mit den Themen Angst, Zwänge, Neurosen etc. beschäftigt. Wie haben Sie es geschafft, sich nicht anstecken zu lassen von all den Denkfehlern, Verwirrungen und fantasievollen Interpretationen der Gedanken?

Ehrlich gesagt, habe ich es nicht geschafft, mich von den Ängsten, Zwängen und absurden Befürchtungen, von denen meine Interviewpartner in diesem Buch so offen berichten, komplett freizumachen. Wie bei jedem anderen Menschen auch, „passieren“ meine Gedanken einfach – aber sie bedeuten recht wenig. Gedanken neigen dazu, abhängig von früheren Erfahrungen und Wahrnehmungen zu entstehen, die sich meiner Kontrolle entziehen. Es sind Gedankenströme des Verstandes, aber wir sind viel mehr als unser Verstand. Eine hilfreiche Übung - die in der Klinischen Psychologie immer mehr an Bedeutung gewinnt - ist es, zu lernen, Gedanken und Gefühle zu beobachten, anstatt auf sie zu reagieren. Das ist besonders hilfreich, wenn es um Angstgedanken geht.

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