Aktuelles | 03.09.2024 | Goldmann

"Rausch und Klarheit" - Interview mit Mia Gatow

Cover

Eine Familiengeschichte, generationenübergreifend geprägt von Alkoholabhängigkeit.

© Phillip Zwanzig

Du bist die dritte Generation in einer "Dynastie von Trinkenden" – Wie hat deine Familie dein Trinkverhalten beeinflusst und wie ist es dir gelungen, auszubrechen? Hat sich eure Beziehung verändert, seitdem du nüchtern bist?

Trinken hat in meiner Familie immensen Schaden angerichtet. Meine Oma ist daran gestorben, mein Vater ebenfalls, viele andere hatten die Krankheit in unterschiedlichen Schweregraden. Alkoholismus ist eine Familienkrankheit, das ist bekannt, und es ist ja auch klar: Wir lernen zuhause alles: Bewältigungsstrategien, Gesten, Rituale des Zusammenseins.

Abgesehen von ihren Suchttendenzen war meine Familie immer schon eine tolle Familie, eine tolerante, witzige, gastfreundliche, kreative Familie. Der Alkohol hat uns individuell unglücklich gemacht, aber er hat keine irreparablen Schäden an unserem Verbundenheitsgefühl hinterlassen.

Meine Onkels und Tanten sind inzwischen alle nüchtern, und es ist das größte vorstellbare Glück. Es war sehr schön und erleichternd zu erfahren, dass sich an unseren Beziehungen in unserer kollektiven Nüchternheit nichts geändert hat. Wir sind immer noch die gleichen, nur glücklicher.

 

Du sagst "Nüchtern werden ist ein rebellischer Akt" – was meinst du damit?

Wir leben in einer Gesellschaft, in der Alkohol als obligatorisch betrachtet wird. Obwohl wir wissen, wie düster die Folgeschäden des Trinkens in Deutschland aussehen, bestehen wir als Gesellschaft darauf, dass Mittrinken nicht verhandelbar ist. Die Gründe, nicht zu trinken sind schnell gezählt: Schwanger sein, fahren müssen.

Jede:r kennt jemanden, der durch Alkohol krank geworden ist. Millionen Kinder wachsen in alkoholbelasteten Familien auf. Alkohol ist ein bekanntes Karzinogen, selbst moderater Konsum erhöht das Risiko für alle möglichen Krebsarten, für Depressionen, für Demenz. Er ist an einer signifikanten Zahl von Gewalttaten beteiligt und spielt fast immer eine Rolle bei häuslicher und sexualisierter Gewalt. Trotzdem haben wir kaum Regularien, die das Trinken eindämmen, die Alkoholindustrie kann quasi machen was sie will. Die Politik unternimmt sehr wenig gegen die vielen zehntausend Alkoholtoten jedes Jahr, die 57 Milliarden alkoholbedingte Folgeschäden zahlen wir als Solidargemeinschaft jedes Jahr.

Und trotz all dem lassen sich immer noch Politiker:innen willig von der Weinlobby einspannen, zu Bier- und Weinbotschafter:innen küren, lassen die Alkoholindustrie bei Gesetzesentwürfen mitschreiben, und reden in Talkshows von der tollen Kultur des Trinkens. Da nicht mitzumachen, ja, das ist ein rebellischer Akt.

 

Du hast dich mit Anfang 20 aus einer toxischen Beziehung befreit – was würdest du deinem jüngeren Ich gern sagen?

Ach, mein jüngeres Ich würde mir gar nicht zuhören. Sie ist viel zu cool. Es würde gar nichts bringen, ihr zu sagen: "Wenn es wehtut, ist es keine Liebe" oder ähnliche Weisheiten alter Leute.

Ich würde ihr ein gutes Chili kochen, und ihr erzählen, ich sei das Medium aus "Matrix" und könnte ihre Zukunft sehen, und ich würde ihr erzählen, was alles passiert, wenn sie nüchtern wird.

Dass sie den Typen mal so lächerlich finden wird, dass sie nicht glauben kann, dass sie dachte, sie braucht den. Dass es ihr mal vollkommen egal sein wird, ob sie cool ist oder nicht. Dass sie alles vom Leben kriegen kann, wenn sie aufhört, im Außen zu suchen. Dass alles, was sie will, sowieso schon da ist, dass sie sich gar nicht so anstrengen muss. Dass man nur die Sachen kontrollieren will, denen man nicht traut. Dass sie in zehn Jahren finden wird, dass sie heute absolut fantastisch aussieht und wirklich, wirklich nichts an ihrem Hintern ändern muss. Dass der Sex immer besser wird. Dass sie schon in wenigen Jahren diese Folterwerkzeuge von Highheels in den Müll schmeißen und nie zurückblicken wird. Dass alles besser wird. 

 

Als du erkennst, dass du dich nicht durch pure Willenskraft vom Alkohol lösen kannst, was hast du stattdessen als Antrieb genutzt?

Wenn man mit etwas aufhören will, das einem schadet, dann hilft es wenig, sich selbst mit den negativen Folgen zu erschrecken. Man muss sich selbst mit den positiven Folgen verführen. Es reicht nicht, nur von zuhause aufzubrechen, man muss auch wissen, wo man hin will. Besonders, wenn es ein fremder Ort ist, an dem man niemanden kennt.

Ich habe zu Beginn meiner Nüchternheit sehr schnell verstanden, dass die Nüchternheit der in jeder Hinsicht bessere Seinszustand ist. Und ich habe angefangen, die Nüchternheit zu romantisieren, wie wir sonst nur das Trinken romantisieren: Das katerfreie Aufwachen in weißen Laken, der klare Blick, der scharfe Verstand, der leichte, fitte Körper, die frische Haut. Nachdem man eine Weile Nüchternheit praktiziert hat, kommen noch mehr Geschenke hinzu: Ich werde souveräner. Selbstbewusster. Sexier. Wacher. Kreativer. Besser im Entscheidungen treffen. Krisenfester. Ich werde jemand, den man im Notfall anruft.

Ich habe ziemlich schnell verstanden, dass entgegen der Geschichten, die wir uns als Gesellschaft übers Trinken erzählen, Nüchternheit kein Verzicht ist, sondern ein Gewinn. Dass ich all die Dinge, die ich im Trinken gesucht habe, in der Nüchternheit finde.

 

Fast 4 Mio. Frauen in Deutschland trinken zu viel, gleichzeitig ist die Stigmatisierung von Alkoholiker:innen so groß wie bei kaum einer anderen Erkrankung – woran liegt das und was kann man dagegen setzen?

Das Stigma ist über Jahrhunderte gewachsen. Einer der Gründe ist, dass man lange wenig über Abhängigkeit wusste. Viele Leute glauben immer noch, es handle sich um ein Problem der Willenskraft, das sich mit Disziplin lösen ließe. Und dass Sucht keine Krankheit sei, sondern eine Charakterschwäche. Ein moralisches Problem.

Stigma hat wichtige Funktionen: Es errichtet eine künstliche Binarität zwischen den “normalen” Trinker:innen und den Alkoholkranken, sodass sich die “Normalen” in Sicherheit fühlen. Stigma suggeriert, wir könnten uns durch Disziplin und Persönlichkeitsarbeit gegen Sucht immunisieren. Wenn wir das nicht schaffen, schämen wir uns und sind wirkungsvoll zum Schweigen gebracht, sodass die anderen uns nicht mehr wahrnehmen müssen. Stigma entmündigt die Betroffenen, sodass sie sich nicht mehr am Diskurs beteiligen wollen.

Das Mittel gegen Stigma: Aufklärung und Sichtbarkeit. Wir müssen viel mehr und offener über Abhängigkeit reden. Und besonders die Abhängigen und Ex-Abhängigen selbst müssen sich am Diskurs beteiligen. Nur so wird deutlich, dass Abhängigkeit jede:n treffen kann, völlig unabhängig vom Charakter. Und dass wir sehr viele sind. 

 

Die Anonymen Alkoholiker spielen eine große Rolle für dich. Was ziehst du daraus? Und was hat der Satz "Ich bin Mia, ich bin Alkoholikerin" für eine Bedeutung für dich?

Ich gehe immer noch gerne in Meetings, auch wenn ich schon lange kein Interesse mehr am Trinken habe. Bei den AA findet man sehr unterschiedliche Leute aus unterschiedlichen Lebenswelten, die aber alle eins gemeinsam haben: Sie mussten auf die harte Tour lernen, sich dem Schmerz und Chaos des Lebens zu stellen, ohne sich zu betäuben oder auszuweichen. Sie alle haben ihren Dämonen ins Auge geblickt und sich selbst nach einer existenziellen Krise neu erschaffen.

Das macht nicht nur interessante Persönlichkeiten, sondern auch Fachleute im Krisenmanagement. Leute, die eine Sucht überwunden haben, wissen ein paar Sachen über das Leben, die andere nicht wissen. AA ist eine unbezahlbare Lebensschule für mich. Ich empfinde meine Mitgliedschaft da mittlerweile als ein Privileg.

Und das bedeutet auch der Satz für mich: Dass ich zu einem exklusiven Club gehöre, zu den Leuten, die beschlossen haben, sich nicht mehr zu bullshitten.

 

Daten und Sex waren zu Beginn deiner Nüchternheit eine Herausforderung für dich, woran liegt das?

In romantischen und sexuellen Beziehungen ist Trinken für sehr viele Leute eine emotionale Abkürzung; er enthemmt, macht locker, wirkt wie ein Katalysator für künstliche Intimität. Er verkürzt die Zeit, in der man sich einander fremd fühlt. Deswegen wird bei Dates so viel getrunken.

Wenn man auf dieses sogenannte soziale Schmiermittel verzichtet, dauert es oft länger, bis man sich entspannen und öffnen kann. Man nimmt alles intensiver wahr, auch peinliches Schweigen oder die Angst vor dem ersten Kuss. Man braucht mehr Geduld, mehr Selbstvertrauen, mehr Humor, stabilere Nerven. Und man kann sich niemanden mehr schönsaufen. Man muss sein Gegenüber tatsächlich schön finden.

 

Wie haben sich deine Freundschaften verändert, seit du nüchtern bist?

Um mich herum haben sich in den letzten Jahren immer mehr nüchterne Leute versammelt, ohne, dass ich gezielt nach ihnen gesucht hätte. Und nüchterne Leute (oder generell welche, die schon mal eine Existenzkrise durchgemacht haben) tendieren dazu, sich in der Tiefe mit sich selbst und dem Leben zu beschäftigen. Sie blicken furchtloser auf unangenehme Wahrheiten. Sie haben mehr Empathie mit anderen. Sie sind Überlebende, was ihre Bereitschaft für belanglosen Smalltalk stark abnehmen lässt.

Ich rede jetzt bei fast allen Mittagessen und Kaffeedates und Spaziergängen mit meinen Freund:innen über den Tod und die Liebe und den Glauben und unsere Kindheiten und den Sinn in all dem. Alle meine Beziehungen sind intensiver und tiefer geworden. Und das entspricht praktischerweise auch sehr meinem Naturell. Ich bin ein kleiner Grufti, ich mag es intensiv und tiefsinnig.

 

© Goldmann Verlag

Interview: Constanze Schwarz

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