Aktuelles | 04.07.2023 | Heyne

Neuseelands offene Wunden

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Der neuseeländische Autor Michael Bennett im Interview

Am 12. Juli erscheint Michael Bennetts Debütroman »6 Tote«. Ein fesselnder, atmosphärischer und aktueller Krimi, der alte und neue Wunden der Māori-Bevölkerung Neuseelands thematisiert. Identität und Herkunft spielen bei Bennett eine sehr große Rolle und machen dieses Debüt zu einem ganz besonderen Werk. 

Der indigene Autor ist einer von Neuseelands bekanntesten Filmemachern und mit »6 Tote« derzeit für zwei Preise nominiert (für den prestigeträchtigsten Krimipreis im Vereinigten Königreich und für das neuseeländische Äquivalent des britischen Booker Prize).

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Interview mit Michael Bennett

Ihr Thriller handelt von Neuseelands kolonialem Erbe und beleuchtet es aus verschiedenen Perspektiven. Außerdem lernen wir eine Menge darüber, was es bedeutet heute ein Māori zu sein. Warum haben Sie einen Thriller über diese Themen geschrieben?

Die Motive des Buches behandeln die offenen Wunden, die die Kolonisierung Neuseelands hinterlassen hat. Vor zwei Jahrhunderten kam eine fremde Macht, ohne legitimes oder moralisches Recht, hier zu sein, in unser Land. Mit Unterstützung der bestausgerüsteten Streitkraft der Welt (der britischen Armee) nahmen sie meinen Vorfahren ihr Land, ihre Selbstbestimmung und Autonomie. Es ist erschreckend, wie kurz davor man war, unsere Sprache und Kultur, unser ganzes Volk zu vernichten. Heutzutage sind Māori in allen sozio-ökonomischen Bereichen massiv benachteiligt – das betrifft den Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem und die Lebenserwartung; die verheerenden Folgen generationsübergreifender Armut sind Depressionen, Selbstmord, Kindesmissbrauch und Kinderarmut. Es gibt kein indigenes Volk auf der Welt von dem so viele Menschen im Gefängnis sitzen. Das Durchschnittsvermögen eines Māori beträgt 20.000 Dollar und das eines Weißen 120.000 Dollar. Das Erbe der Kolonisierung ist nicht nur ein verstaubtes Kapitel in einem Geschichtsbuch. Es ist etwas ganz Reales. Bei Hana Westermans Jagd nach dem Mörder in 6 TOTE geht es um die offenen Wunden, mit denen die Māori und das heutige Neuseeland konfrontiert sind, allerdings im leserfreundlichen Kontext einer spannenden, rasanten Kriminalgeschichte.

Das Konzept des Utu spielt eine wichtige Rolle in Ihrem Thriller. Können Sie erklären, was es damit auf sich hat (ohne etwas zu spoilern)?

Alles, was ich über das Utu gelernt habe, geht auf das Konzept des Gleichgewichts zurück. Die indigenen Völker verbindet der fundamentale Glaube an das Prinzip der Balance – in ökologischer, geschlechtlicher, sozialer und ethnischer Hinsicht –, ein Prinzip, das der Rest der Welt noch nicht ganz verstanden hat. Beim Utu geht es nicht um Rache oder Bestrafung, das ist zu einfach; es geht um die Wiederherstellung der Balance. Ob die Morde in 6 TOTE dem Gedanken des Utu entsprechen oder nicht, ist eine spannende Frage, mit der sich die Polizistin und der Mörder im Laufe der Geschichte auseinandersetzen.

Wie haben Sie es geschafft, die modernen Themen des Buches (non-binäre Charaktere, politischer Aktivismus, Vergewaltigungskultur und Rap) und die historischen Themen (Neuseelandkriege, historische Konflikte zwischen Māori und Kolonialmächten) so gut auszubalancieren?

Lustigerweise sind die Dinge in Aotearoa | Neuseeland einfach so – zumindest in unserer Familie! Māori waren schon seit dem Jahre Null Geschichtenerzähler*innen. Wir haben schon immer Geschichten durch whaikōrero (förmliche Reden) und whakairo (Schnitzkunst) übermittelt. Heutzutage gibt es unzählige kreative neue Medien, die unsere Geschichten in die Welt bringen. Meine Familie ist durchgehend umgeben von außergewöhnlichen, kraftvollen, wunderbaren Menschen, die nur so vor Kreativität strotzen – Rapper*innen, Dichter*innen, Komponist*innen, Autor*innen, Filmemacher*innen, Künstler*innen, Musiker*innen, Screenwriter*innen, Maler*innen, Designer*innen, Schauspieler*innen und Fotograf*innen. Es ist fast anstrengend. Und gleichzeitig ist es wundervoll. Wenn wir so zusammensitzen, sei es die eigene Familie oder gemeinsam mit den viele kreativen Köpfen in meiner Bekanntschaft, dann reden wir immer über das Leben, die Liebe und die Hoffnung, darüber, wo wir jetzt sind und wie wir hierhergekommen sind. Meine Tochter ist ein internationaler Slam Poet Champion. Ihre Gedichte verfasst sie auf Englisch und auf Māori und ich zitiere eines davon im Addendum des Buches:


„Wenn mich meine Cousins aus England besuchen,
zeige ich ihnen, wie rot die Straßen Aucklands
erscheinen, sobald man sich daran erinnert, was unter
ihnen begraben ist, ich rufe ihnen ins Gedächtnis, wie
die Knochen von Schießpulver gebleicht wurden, das
ist Neuseeland, und es ist tot.“


Als Künstler*innen ist es unsere Pflicht, diese Sachen zu verstehen und darüber zu sprechen – Die Vergangenheit ist nicht einfach vorbei, sie hat Nachwirkungen auf alles, was wir heute tun, wer wir sind und wohin wir gehen.

Als Drehbuchautor und Film- und Fernsehproduzent wissen Sie, wie man interessante Figuren erschafft und vielschichtige Geschichten erzählt. Wie hat sich das Schreiben eines Thrillers davon unterschieden?

Ich arbeite seit fünfundzwanzig Jahren als Filmemacher und Drehbuchautor, und der Wechsel vom Drehbuch zum Roman war vollkommen organisch. Alfred Hitchcock hat mal gesagt: „Ich kann keinen Roman lesen, ohne mir jede einzelne Szene bildhaft vorzustellen.“ Das beschreibt ziemlich genau meinen Arbeitsprozess, ob nun bei einem Drehbuch oder einem Roman – die Szenen flimmern über die kleine Kinoleinwand in meinem Kopf; die Figuren bewegen sich durch ihre Welt, sie reden, küssen sich und kämpfen miteinander, und ich schreibe einfach auf, was ich sehe und versuche hinterherzukommen! Das Großartige an einem Roman ist, dass man nicht wie bei einem Drehbuch auf hervorragende Schauspieler*innen angewiesen ist, um etwas über die Gefühle der Figuren zu erzählen. In einem Roman kann man sehr viel tiefer in das Innenleben der Figuren eintauchen, in ihre Gedanken und Gefühle, beschreiben, was sie riechen, was sie im Innersten bewegt – das lässt sich auf der Leinwand sehr viel schwerer vermitteln.

Was war für Sie die größte Herausforderung während des Schreibens? Und wie haben Sie diese überwunden?

Ich denke oft, dass das Dasein als Schriftsteller*in mit dem einer Katze auf einem heißen Blechdach vergleichbar ist. Das Schreiben und Veröffentlichen eines Buches beinhaltet viele komplexe Emotionen. Aufgeregt sein ist natürlich eine davon. Aber auch Nervosität. Und um ehrlich zu sein, auch blanke Angst (zumindest bei mir)! Vielleicht ist das die größte Herausforderung und die seltsamste Grundvoraussetzung für die Tätigkeit als Schriftsteller*in – die Katze zu sein, die sich freiwillig auf ein glühend heißes Blechdach begibt. Eine ganz besondere Herausforderung, der ich beim Schreiben dieses Buches gegenüber stand, war die Pandemie. Ich denke, jede*r von uns hat erkannt, dass die Lockdowns für unsere Welt in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung waren, sowohl im Hinblick auf das Arbeits- als auch auf das Privatleben. Sobald die ersten Flüge nach dem ersten Lockdown im Winter 2020 wieder gingen, bin ich zu einer kleinen Hütte an einem wilden Strand auf der Südinsel Neuseelands geflogen. Dort habe ich meinen ersten Manuskriptentwurf geschrieben. Ich schrieb den ganzen Tag, sammelte Treibholz, während die Sonne unterging. Ein Freund, der in der Nähe lebte, kam abends vorbei und wir grillten Fisch über dem Treibholzfeuer, tranken billigen Whiskey und lösten die Probleme der Welt (und manchmal auch ein paar unserer eigenen). Der erste Entwurf des Manuskripts entstand aus einer Explosion von Energie, nach all diesen Monaten, in denen ich in den gleichen vier Wänden festsaß. Um ehrlich zu sein, war ich ein bisschen am Boden zerstört, als ich diesen Entwurf beendet hatte. Das war wirklich eine ganz besondere Zeit!

Welche neue Idee oder Erfahrung nehmen Sie aus diesem Projekt für sich mit?

Mein Vater, ein vielfach ausgezeichneter Spitfire-Pilot im Zweiten Weltkrieg, hat mir die lebenslange Leidenschaft mitgegeben, für das zu kämpfen, was wirklich wichtig ist. Meine Mutter war eine brillante Schriftstellerin, die meinen Vater getroffen hat, als sie ihre Doktorarbeit über dessen Vater schrieb (mein Großvater war der erste Māori-Bischof Neuseelands). Sie hat mir die Liebe für Wörter und die Ehrfurcht vor ihrer Macht mitgegeben. Wegen dieser Geschenke habe ich mich vor ein paar Jahrzehnten dazu entschlossen, ein Leben als Schriftsteller zu führen. Das Projekt 6 TOTE, hat mir die Kraft gelehrt, eine Geschichte mit Leidenschaft und Verpflichtung zu schreiben. Die starke internationale Reaktion auf das Buch hat mich erstaunt. Es wurde bereits in Großbritannien, Australien und Neuseeland veröffentlicht und in neun Sprachen übersetzt, darunter jetzt auch Deutsch. Ich fühle mich zutiefst geehrt, dass deutsche Leser*innen 6 TOTE in ihrer eigenen Sprache lesen werden können. Die Reaktionen von ausländischen Verleger*innen und Rezensent*innen lassen mich die Aufregung des Geschichtenerzählens spüren. Die tiefgründigen Themen der Kolonisierung und des Schmerzes der indigenen Bevölkerungen machen das Buch für Leser*innen auf der ganzen Welt aktuell und relevant.

Haben Sie persönliche Erfahrungen in 6 TOTE eingebaut, die sie mit den Leser*innen teilen möchten?

Schriftsteller*innen sind Vampir*innen. Wir versuchen vielleicht es zu vertuschen, aber das ist gelogen! Wenn man Schriftsteller*innen kennt, mit ihnen redet oder wenn man eine*n in der Familie hat, wird man unumgänglich in irgendeiner Form in deren Büchern auftauchen. Manchmal denke ich mir, ich sollte eine Karte ausdrucken, die ich aushändigen kann, wenn ich jemanden zum ersten Mal treffe – „Wenn du Zeit mit mir verbringst, bist du hiermit gewarnt …“! Kriminalhauptkommissarin Hana Westerman ist eine Zusammensetzung aus Aspekten vieler starker, außergewöhnlicher Frauen in meinem Leben: Tanten, Schwestern, Töchtern, meiner Lebenspartnerin, meiner Mutter (ihr Mädchenname ist Westerman). Hana hat auch viele Aspekte von mir – zum Beispiel kann sie am besten abschalten, indem sie jeden Morgen vor Sonnenaufgang 10,13 Kilometer läuft. Genauso mache ich das auch: Ich stehe jeden Tag um fünf Uhr auf und mache einen Power-Walk mit einer Länge von exakt 10,13 Kilometern. Hana ist obsessiv, zielstrebig und detailorientiert – Dinge, die meine Familie und Freunde vermutlich (definitiv) in mir wiedererkennen würden! Ich identifiziere mich aber auch sehr stark mit dem Mörder in diesem Buch. Viele der Probleme, über die der Mörder spricht, reflektieren meine eigenen Ansichten. Obwohl ich hoffentlich nicht erwähnen muss, dass ich mit seinen Aktionen oder Problemlösungen nicht einverstanden bin! Andere fiktive Charaktere im Buch kommen auch aus meiner Welt: Hanas politisch aktive Rapper-Tochter Addison ist meiner jüngsten Tochter sehr ähnlich. Sie ist Aktivistin und wie erwähnt Dichterin. Addisons Tattoos sind die gleichen Tattoos wie die meiner Tochter – darüber war sie ein bisschen sauer…!

Ist die vulkanische Landschaft in Ihrem Buch eine Metapher für die immer noch bestehende, begrabene Wunde der neuseeländischen indigenen Bevölkerung (die jederzeit ausbrechen könnte)?

Auckland ist umgeben von 50 wunderschönen Vulkanen. Der letzte große Vulkan brach vor 600 Jahren im Hafen von Auckland aus, eine gewaltige Eruption, aus der sich die Rangitoto-Insel gebildet hat. Sie liegt im stillgelegten Teil unseres Haupthafens, etwa vier Kilometer vom Stadtzentrum Aucklands entfernt. Mein eigenes Haus ist im Krater eines Vulkans gebaut! Der jüngste Vulkan in Auckland ist ein kleiner, derzeit nur zehn Meter hoher Vulkan, der in der Nähe des Hauptmuseums, mitten in der Stadt, entstanden ist. Er ist schon seit vielen Jahren nicht mehr gewachsen und wir hoffen alle, dass er diese Größe behält. Aber wer weiß? Wir sind die erste Stadt der Welt, die seit Pompeji auf einem aktiven Vulkanfeld gebaut wurde, und wir alle wissen, wie diese Geschichte geendet hat! Die brodelnde, aufgestaute Energie, die in diesem Land unter der Erdkruste lauert, ist ein aussagekräftiges Symbol für den nicht geheilten Schmerz und das Leid; für die rauen und ungelösten Nachfolgen der Kolonialisierung für die Māori. In meinem Buch spreche ich über diese explosive Energie, über das generationenübergreifende Trauma der Māori, das bis zum heutigen Tage andauert, und über die Gefahr, diese Probleme unter den Tisch zu kehren. Ich spreche aber auch über die Hoffnung und die Überzeugung, dass wir uns diesem Trauma und diesem Leid nicht mit Gewalt, nicht mit Explosivität stellen sollten, sondern mit Ehrlichkeit und Liebe und mit einer Verpflichtung – von beiden, Māori und Nicht-Māori – um Aotearoa | Neuseeland wirklich zu einem Ort der Gleichberechtigung und Nächstenliebe zu machen.

Können Sie uns verraten, wie Ihre Pläne für Hana Westerman in Zukunft aussehen?

Wenn Ihnen die Welt und die Figuren in 6 TOTE gefallen haben – es wird mehr davon geben, in Buchform und auf dem Bildschirm! Ich arbeite momentan an einem zweiten Band, in dem Hana Westermans Reise als brillante Māori-Polizistin weitergeht; sie hat darin beruflich und privat eine Menge um die Ohren. Das zweite Buch wird sie in eine dunkle Welt aus ungeklärten Morden und Gewalttaten führen. Gleichzeitig entwickeln wir auf der Grundlage von 6 TOTE eine Fernsehserie, die wir hoffentlich in naher Zukunft finanzieren und drehen werden können.

Das Interview ist mit Hinweis auf das Buch zum Abdruck ab dem 12. Juli 2023 freigegeben. © Heyne Verlag

Michael Bennett (Ngāti Pikiao, Ngāti Whakaue) arbeitet als preisgekrönter Regisseur, Produzent und Showrunner für Film und Fernsehen in Neuseeland (Aotearoa). »6 Tote« ist der erste Fall für Detective Senior Sergeant Hana Westerman. In seinem Thriller-Debüt verknüpft Michael Bennett seine Leidenschaft für spannende Geschichten mit Fragen von Identität und Herkunft, die eng mit dem kolonialen Erbe seiner Heimat verbunden sind. Mit seiner Partnerin und seinen drei Kindern lebt Michael Bennett in Auckland (Tāmaki Makaurau).

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6 Tote

Michael Bennett

Als Polizistin in Auckland und getrennt lebende Mutter einer Teenie-Tochter, hat Hana Westerman sich angewöhnt, stets nach vorn zu blicken. Doch ihr schwierigster Fall hat gerade erst begonnen: Ein mysteriöser Tippgeber weist ihr den Weg zu einem Toten, aufgehängt in einem geheimen Raum. Zu diesem Zeitpunkt ahnt Hana noch nicht, dass sie es mit dem ersten Serienkiller in der Geschichte Neuseelands zu tun hat. Doch warum hat der Täter ausgerechnet sie auf seine Fährte gelockt? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, muss Hana sich ihrer Vergangenheit stellen – und damit dem dunkelsten Kapitel ihrer Vergangenheit.

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