Liebe Natalie Buchholz, in Ihrem neuen Roman erzählen Sie von Ihrem französischen Großvater, der während des Zweiten Weltkriegs von der Wehrmacht zwangsrekrutiert und Zeit seines Lebens zwischen Deutschland und Frankreich hin- und hergerissen wurde. Was war der Auslöser, dieses Buch zu schreiben?
Es gab einige Widersprüchlichkeiten, die ich ergründen wollte. Mein Großvater stammte aus Lothringen, einer Grenzregion, die seit jeher Spielball zwischen Deutschland und Frankreich war. Er sah es als großen Fauxpas an, dass seine Tochter ausgerechnet einen Deutschen heiratete – meinen Vater. Lange Zeit dachte ich, der Grund dafür sei sein Leiden unter den Deutschen während des Krieges gewesen. So jedenfalls lautete eine der Familienlegenden, mit denen ich groß geworden bin. Dieser bin ich nachgegangen. Mit einer überraschenden Erkenntnis.
Wie sind Sie beim Schreiben vorgegangen?
Als erstes habe ich die richtige Erzählperspektive gesucht. Die ersten Entwürfe gehen schon ein paar Jahre zurück. Aber keine hat in meinen Augen funktioniert. Da gab es immer eine Distanz, die dem Text nicht guttat. Irgendwann bin ich zum literarischen Ich und der lakonisch-kommentierenden Mutterfigur gelangt – und das fügte sich erstaunlich gut, da generationenverbindend. Dennoch erschien mir diese Perspektive zunächst befremdlich. Es war, als machte man sich und andere unter einem dicken Daunenmantel nackt. Ich war immer froh um die Daune …
Ist es die Freiheit der Romanform, die Ihnen diesen Schutz bot? Sie zeichnen ein poetisch präzises Bild Ihres Großvaters, seine Figur erscheint immer greifbarer und »wahrer« – eine Wahrheit, die die Erzählstimme der Gegenwart mitunter wieder in Frage stellt.
Für mich bedeutet Erzählen immer erfinden, selbst oder vor allem dann, wenn man am echten Leben entlangschreibt. Es ist ein bisschen so wie bei einem Foto. Das Abgebildete ist zwar für alle sichtbar und genau beschreibbar. Aber nicht das, was sich abseits des Ausschnitts abspielt. Und gerade das Abseitige kann das tatsächlich Gezeigte in ein völlig anderes Licht rücken, einen Moment neu definieren. Als Erzählerin, die den Rahmen vorgibt, weiß ich über das Abseitige Bescheid. Ich entscheide, was ich preisgebe, was ich weglasse, worauf ich den Fokus lege, ich selektiere, spitze zu, lasse dadurch Neues entstehen.
Erinnerungen funktionieren ähnlich; sie sind selektiv; auch erinnert man sich immer ein bisschen anders. Werden Erinnerungen oder vermeintliche Erinnerungen jedoch oft genug wiederholt, verfestigt sich eine Wahrheit, die bei genauerer Betrachtung nicht zwangsläufig wahr sein muss. Interessanterweise stammten eine Menge überlieferter »Wahrheiten« von den Frauen in meiner Familie, was mich von Familienlegende zu Familienlegende und schließlich zu meinem Roman brachte.
In Ihrem Roman treffen kurze, inhaltlich oft harte Kapitel auf eine feinfühlige, klare Sprache, was eine Spannung erzeugt, der man sich nicht entziehen kann. Wie wichtig war Ihnen dieser Kontrast?
Sehr wichtig. Der Wechsel der Tonalität nimmt die Zerrissenheit meiner Figuren auf, die Zweisprachigkeit (beziehungsweise Mehrsprachigkeit, bezieht man das Elsässische und Lothringische mit ein), das ständige Hin und Her, das ein wichtiger Bestandteil meiner Erzählung und Erzählweise ist.
Wie viel Recherche steckt in »Grand-papa«?
Ich habe mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen gesprochen, Museen und Archive aufgesucht, Anfragen gestellt, bin unter anderem dank des Ludwig-Harig-Stipendiums und des Münchner Arbeitsstipendiums viel gereist. Natürlich habe ich auch viel gelesen. Am Ende galt es dann, das ganze angereicherte Wissen zu destillieren. Dafür brauchte es vor allem Abstand, einen großzügigen Umgang mit der Löschtaste und eine gute Lektorin, die ich zum Glück hatte.
Was meinen Sie, woher dieses gegenwärtige Bedürfnis vieler Autorinnen und Autoren kommt, sich schreibend mit der eigenen Familiengeschichte, insbesondere mit der Kriegsgeneration auseinanderzusetzen?
Ich weiß nicht, ob das gegenwärtige Bedürfnis tatsächlich höher ist als früher. Aber es ist möglicher. Die Nachkriegsgeneration war zu nah dran, als dass sie Antworten auf ihre Fragen bekommen oder überhaupt erst Fragen gestellt hätte. Die darauffolgende Generation hat eine größere emotionale Distanz – das ist hilfreich, um sich (literarisch) mit dieser Zeit auseinanderzusetzen. Wenn diese, meine Generation also nicht nachfragt, was die Großeltern während des Zweiten Weltkriegs getan haben, wer soll es dann tun? Die Aktualität des Themas ist größer denn je. Wir leben in einer Zeit, in der rechte Kräfte europaweit erstarken.
In Ihrem Familienporträt spiegelt sich die deutsch-französische Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Wir erfahren viel über das besondere Schicksal der Menschen im Elsass und in Lothringen in dieser Zeit. Ist ihre Geschichte in Frankreich und Deutschland gleichermaßen bekannt?
Für beide Länder gesprochen, würde ich behaupten, dass dieses Grenzgebiet mit seiner sehr komplexen Geschichte nach wie vor ein weißer Fleck auf der Landkarte Europas ist. Es lohnt sich, diesen literarisch (aber nicht nur!) zu ergründen. In Frankreich allerdings ist fast jedem das schreckliche Massaker der SS in Oradour-sur-Glane ein Begriff. Unter den SS-Soldaten befanden sich 13 zwangsrekrutierte elsässische Soldaten. Das führte in Frankreich während der Gerichtsprozesse in den 1950er-Jahren zu einem enormen Aufruhr, der das Land nach der Amnestierung der elsässischen Rekruten spaltete – und tiefe Wunden hinterließ, die bis heute nicht aufgearbeitet sind. In Deutschland ist all das wenig bekannt, obwohl es genauso Teil der deutschen Geschichte ist.