Aktuelles | 21.02.2024 | Goldmann

Mario Giordano im Interview über seinen Roman "Die Frauen der Familie Carbonaro"

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"Bei der Arbeit an "Terra di Sicilia" wurde mir klar, dass die Frauen der Familie Carbonaro zu kurz kommen..."

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In Ihrem neuen Roman erzählen Sie die Geschichte Siziliens anhand dreier Frauengenerationen. Was hat Sie an der Perspektive gereizt? Und was war die größte Herausforderung?

Bei der Arbeit an Terra di Sicilia wurde mir klar, dass die Frauen der Familie Carbonaro zu kurz kommen, und dass ich ihre Geschichte erzählen wollte. Männer hatten zu Anfang des 20. Jahrhunderts viel mehr Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung. Der Patriarch Barnaba Carbonaro pflügt in Terra di Sicilia geradezu eine Furche von Geschichten. Bei den Frauen musste ich den Blick wechseln. Musste verstehen, dass Frauen nicht pflügen, sondern weben, und einen erzählerischen Weg finden, Lebensgeflechte zu fassen zu kriegen. Zumal als männlicher Erzähler. Aber so verstehe ich meinen Beruf: Nicht wollen, was du kannst, sondern können, was du willst.

Die dramaturgische Herausforderung bestand darin, keine Fortsetzung von Terra di Sicilia, sondern einen eigenständigen Roman zu schreiben. Die größte erzählerische Herausforderung war sicher, in die Gefühlswelt meiner drei Protagonistinnen hineinzufinden, ihre Ziele und Bedürfnisse zu verstehen, sie in ihrer Zeit glaubhaft werden zu lassen, und ich war erstaunt, wie düster zwischendurch die Geschichten wurde. Aber es musste eben so sein.

Ihre Sprache ist so bildhaft und lebendig, dass man förmlich riecht, schmeckt und zuhört, wenn die Carbonaros am Tisch sitzen. Woher nehmen Sie die Fülle an Beschreibungen?

Ich will erzählen, das heißt, dass ich bei jeder Szene, in jedem Dialog den Konflikt suche. Wenn ich eine Landschaft, einen Ort oder den Wind erzähle, dann muss der Wind etwas wollen, was eine andere Figur nicht will. Und wenn ich fleißig bin, schaltet sich irgendwann das Unterbewusstsein dazu und hilft mir mit Bildern aus, die man riechen und schmecken kann.

In Ihrem Roman zeigen Sie ein Land, dass gefangen ist in der Vergangenheit, dominiert von Männern. Woran liegt das?

Für mich ist Sizilien ist ein mythischer Ort, ein Land, das gefangen ist in ewiger Gegenwart. Sizilianer leben im Hier und Jetzt. Über Dinge, die gerade erst passiert sind, sprechen sie z.B. umgangssprachlich in einer Vergangenheitsform, die sonst nur literarisch verwendet wird. Was vorbei ist, existiert nicht mehr. Was noch kommen wird, existiert ebenso wenig. Sich nicht verändern zu müssen, ist das Privileg der Götter, und für nichts anderes halten Sizilianer sich.

Männer dominieren bis heute die ganze Welt. In Sizilien vermischt sich feudales Standesdenken mit dem vulgären Machismo der italienischen Faschisten, mit dem Mythos des Latin Lover der Nachkriegszeit, und mit orientalischen Stammestraditionen. Gleichzeitig gibt es eine sehr starke matriarchale Unterströmung. Mütter sind alles. Nirgendwo ist die Marienverehrung stärker als in Sizilien. Aber Frauen zu Heiligen zu verklären, die dem Göttlichen per se näher sind, ist eben auch ein uraltes und sehr wirksames Unterdrückungsinstrument. Von alldem wollte ich erzählen.

In Ihrem Roman kommt auch die politische Entwicklung in den 30er Jahren in Italien und Deutschland zur Sprache. Dabei gehen die Familienmitglieder der Carbonaros sehr unterschiedlich mit Faschismus und Nationalsozialismus um. Woher kommen diese verschiedenen Positionen?

Ich wollte keine Geschichte über Heldinnen erzählen, sondern über Menschen, die alle mit ihren inneren Dämonen ringen und versuchen, irgendwie klarzukommen. Pina Carbonaro entflammt in einer schwierigen Lebensphase für den Faschismus, um sich selbst zu bestrafen, obwohl sie sich als junge Frau für die Frauenrechtsbewegung begeistert hat. Barnaba Carbonaro verkauft Mandarinen an die Sowjetunion und hat einen Deal mit der Faschistischen Partei, obwohl er die Faschisten hasst. In München nähen Anna und Nino Carbonaro HJ-Uniformen, um die Familie durchzubringen. Wie die meisten von uns versuchen sie, die aufziehende Katastrophe so lange wie möglich auszublenden. Bis es nicht mehr geht und ihnen das Leben Haltung abverlangt. Und da sind die Carbonaros dann alle eindeutig.

Obwohl die Carbonaros angesehene Geschäftsleute in München werden, kommen sie nie richtig an. Woran liegt das?

Fremde bleiben immer fremd. Das ist das Schicksal aller Emigranten, und sie vererben es noch an ihre Kinder und Enkel. Die Gravitation Siziliens ist besonders stark, aber auch Sizilien wird den Carbonaros fremd. Und wie soll man auch ankommen, wenn man alle naselang gefragt wird, wann man wieder geht?

Was bedeutet für Sie Heimat?

Sprache.

© Goldmann Verlag, Interview: Katrin Hiller

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