Liebe Frau Heinicke, es gibt zahlreiche Ratgeber für Mütter und Schwangere, dennoch haben Sie festgestellt, dass es psychische, körperliche und gesellschaftliche Auswirkungen von Mutterschaft gibt, über die kaum gesprochen wird. Was hat Sie am meisten überrascht und was hätten Sie selbst gerne gewusst, bevor Sie Mutter geworden sind?
Am meisten hat mich die Wucht überrascht, mit der sich nicht nur mein Leben komplett verändert hat, sondern auch ich als Mensch – und wie anders ich – als Frau - von meiner Umgebung auf einmal wahrgenommen wurde. Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Auch nicht auf die vielen sehr intensiven und teils völlig konträren Gefühle, die mit meinem Mutterwerden einhergingen.
Ich glaube, ich war gut darauf vorbereitet, was es bedeutet, ein Kind zu bekommen. Aber ich hätte dringend mehr Informationen darüber gebraucht, was es bedeutet, Mutter zu werden.
Das sind zwar zwei Prozesse, die oft parallel stattfinden und sich gegenseitig bedingen – aber es ist definitiv nicht ein und dieselbe Sache.
„Es ist weder Zufall noch persönliches Versagen, wenn wir Mütter das Gefühl haben, am gesellschaftlichen Ideal zu scheitern“ – warum haben so viele Mütter dieses Gefühl?
Es gibt dieses gesellschaftlich und medial vorherrschende Bild davon, wie eine gute Mutter zu sein hat. Das ist ein schier unerreichbares Ideal, das mit den Anfängen des Kapitalismus begründet worden ist und sich seither immer weiter perfektioniert hat. Das beginnt schon mit der Romantisierung der Schwangerschaft und der Tatsache, dass „Muttergefühle“ als Synonym für „Mutterliebe“ benutzt wird. Hingegen sind Mutterschöpfung oder Mutterwut eher keine geläufigen Begriffe. Und darin liegt eine Wertung, die viele Mütter einen Großteil der elterlichen Emotionen unterdrücken und sich ihretwegen schlecht fühlen lässt.
Aber kein Mensch ist in der Lage, 24/7 nur glücklich und bedingungslos liebend zu sein und die eigenen Bedürfnisse zum Wohle eines anderen Menschen komplett zurück zu stellen. Jedoch wird von Müttern genau das erwartet.
Es ist paradoxerweise die Idealisierung von Müttern, die zu ihrer Unterdrückung beigetragen hat.
Sie schreiben, ihr Buch sei streckenweise auch das Protokoll ihres Versuchs, die Mutter zu werden, die Sie all den gesellschaftlichen, familiären und eigenen Vorstellungen zum Trotz gerne sein möchten. Welche Vorstellungen sind dabei am schwierigsten zu erfüllen – oder eben gerade nicht zu erfüllen?
Für mich persönlich ist es die Vereinbarkeit zwischen meinem Beruf, den ich liebe, und meiner Familie, die ich liebe. Kreativ zu arbeiten, setzt eine zeitliche und geistige Flexibilität voraus - es ist gleichzeitig aber auch ein enormes emotionales Commitment. Ebenso verhält es sich mit der liebevollen Begleitung eines Kindes. Diese beiden, meine wichtigsten zwei Lebensbereiche, kollidieren ständig miteinander.
„Aus dem Bauch heraus" ist auch ein Plädoyer für eine Umverteilung von Entscheidungs-Macht und Verantwortlichkeiten. Wieso ist so essenziell wichtig, dass wir als Gesellschaft anfangen Reproduktionsarbeit wirklich ernst zu nehmen und wertzuschätzen?
Sie ist das Fundament, auf dem unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, der Kapitalismus, aufbaut. Ironischerweise liegt die patriarchale Hierarchie, in die wir uns alle ein- und unterordnen müssen, nicht zuletzt in der Geringschätzung von Reproduktionsarbeit begründet. Wenn wir die Sache mit der Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern wirklich ernstmeinen, kommen wir nicht drum herum, uns auch mit dieser Basis zu beschäftigen.
Auf einer individuellen Ebene, gerade z.B. in biologischen Elternschaften, in denen eine Person durch Schwangerschaft und Geburt geht und ggf. sogar stillt, könnte es sich lohnen, diese Tätigkeiten nicht einfach als „naturgegeben“ und damit gratis vorauszusetzen, sondern sie als ganz reale Arbeitsleistung, einen körperlichen und psychischen Mehraufwand anzuerkennen. Und sich zu fragen: Wie lässt sich dieser ausgleichen? Oder auch:
Wievielmal Kloputzen ist einmal Stillen?
In Kommentarspalten zu Artikeln rund um Mutterschaft kommen regelmäßig Kommentare – meist von älteren Herren – die sinngemäß sagen „Mütter haben schon immer einfach Kinder bekommen und das war nicht so ein Riesending“ – wie hat sich Mutterschaft und überhaupt Elternschaft durch unsere derzeitigen gesellschaftlichen Rahmenbedingen verändert?
Menschen haben schon immer Kinder bekommen, klar. Bis ins 18. Jahrhundert war das Kinderhaben auch tatsächlich kein Riesending – zumindest hat es so etwas wie Mütterlichkeit noch gar nicht gegeben. Kinder hatten in diesem Sinne allerdings auch keine Kindheit. Sie wurden, wenn sie nicht gerade adelig geboren worden waren, in die Arbeitsprozesse der Familie integriert, sobald sie laufen konnten. Wer in ernteschwachen Jahren nicht miternährt werden konnte, wurde einfach ausgesetzt.
Das Mutterbild, inklusive der Mutterliebe, aus der heraus eine Mutter alle elterlichen Pflichten, die wir heutzutage für selbstverständlich halten, nicht nur gratis, sondern auch mit Genuss erledigen soll, ist eine Erfindung des Kapitalismus – und damit weder „natürlich“ noch unveränderbar.
In den letzten Jahren werden vermehrt Stimmen lauter, die sich auch kritisch mit dem Muttermythos und den Herausforderungen einer gleichberechtigen Elternschaft auseinandersetzen. Welche Aspekte fehlten Ihnen im bisherigen Diskurs?
Ich würde hier gar nicht von einzelnen Aspekten sprechen. Das klingt so, als gäbe es schon ein recht vollständiges Bild davon, was z.B. eine Abkehr vom Muttermythos oder der Versuch einer gleichberechtigten Elternschaft bedeuten können. Aber dem ist ja nicht so. Im Gegenteil – wir stehen in diesem Diskurs erst ganz am Anfang. Und je mehr Stimmen laut werden, je mehr Perspektiven Gehör und Aufmerksamkeit finden, desto besser.
Desto besser für uns alle.
Was möchten Sie (werdenden) Müttern ans Herz legen?
Dass es weder in puncto Elternschaft noch in puncto Kinderbegleitung allgemeingültige Ratschläge gibt. Jede Mutter ist anders, jede Familie, jede Situation.
Ich wünsche einfach allen Müttern, dass sie sich frei fühlen, ihre Mutterschaft so zu gestalten, wie es sich für sie stimmig anfühlt. Und dass sie die Unterstützung und Wertschätzung bekommen, die sie brauchen - und unbedingt verdienen.