Interview | Penguin-Autorin Kerstin Brune über ihren Debütroman »Die Jahre des Maulwurfs«
In welcher Welt spielt Ihr Debütroman »Die Jahre des Maulwurfs«?
Der »Maulwurf« spielt in den 80er und 90er Jahren in jedem und keinem Dorf in der Provinz. Es ist begrenzt von dichtem Wald und einer »Stadtmauer ohne Stadt«, von Eigensinn und dem Gesetz des Stärkeren. Nur eine einzige Straße führt hinein, keine hinaus – wer kommt, will schließlich für immer bleiben!
Sein Inneres wird aufrecht erhalten von den Träumen, aber auch der Selbstzufriedenheit der Dorfbewohner. Hier herrschen eigene Regeln, und jeder ist abhängig von den Launen des eigensinnigen Großbauern Deiwel, dem ungewählten Bürgermeister des Dorfs, der aus dessen Zentrum heraus regiert: Der alten Dorfschenke »Zum Ochsen«.
Das Dorf ist für die Ich-Erzählerin ein Ort der prägenden Erfahrungen mit Menschen und einer übermächtigen Natur. Sie beginnt, den düsteren Wald zu betreten, der eine Art äußere und innere Landschaft darstellt, in der sie ständig an Grenzen stößt – Zäune, tiefen Sand, den Mühlfluss, die eigene Zögerlichkeit. Wann und ob man springt, flieht oder bleibt, ob man dabei ermutigt, getragen oder geschubst wird, hängt von den Leuten ab, denen man dabei begegnet – die Erzählerin trifft Tanja.
»Das Dorf ist ein kleiner Kosmos, der nach seinen eigenen Regeln funktioniert, und das ausgesprochen gut – man darf halt nur nicht zu denen gehören, die dabei auf der Strecke bleiben. «
Was hat Sie zu dieser Geschichte inspiriert?
Im Aufwachsen auf dem Dorf Spuren einer Heldenreise zu finden, ist spannend. Von außen scheint eine Kindheit auf dem Land behütet, grün, überschaubar und ruhig. Seit über 20 Jahren lebe ich jetzt in einer Großstadt und kann Dörfer aus einer neuen Perspektive heraus dabei beobachten, wie sie um genau diese Überschaubarkeit des Lebensraumes kämpfen, Risse flicken, Regeln brechen, Naturgesetze beugen.
Ich schätze ihren Mut und die Bereitschaft, sich zu wehren. Die Lust am Verschrobensein, das absichtliche Zeitanhalten. Die Bauernschläue und den erdige Blick, den sie auf alles werfen. Das hat mit ein bisschen Abstand etwas Magisches.
In meinem Roman setze ich zwei Kinder auf diese Spielfläche und lasse sie Pinball-artig zwischen den Dorfbewohnern hin- und herprallen. Sie sind in einem Alter, in dem sie beginnen, von innen gegen die eigene Eierschale zu picken. Durch die Bruchstellen sieht man zuerst einzelne Ereignisse, dann Zusammenhänge – und irgendwann weiß man, wie man zu dem wurde, was man heute ist.
Eine Ihrer Hauptfiguren – Tanja – ist ein sehr besonderes Kind mit einem ganz eigenen Blick auf die Welt. Wie würden Sie Tanja beschreiben?
Zwischen all den verschrobenen Dorfbewohnern, über die sich die Ich-Erzählerin kaum wundert, ist Tanja eins dieser verrückten Kinder, die sicherlich jeder mal kannte, nie verstand und die deshalb so faszinierend für uns alle waren: Frei, laut, wild, verrückt, manchmal beängstigend.
Sie widersetzt sich den Regeln der Erwachsenen, des Dorfes, der Logik überhaupt. Tanja erklärt die Welt auf eine magische Weise. Die ist entweder total verrückt - oder aber viel ehrlicher und einleuchtender als das, was die Erwachsenen sagen.
Tanja, die seltsame Freundin, war eine harte Wahl. Mit der Figur musste ich mich während des Schreibens erst anfreunden, sie hat mich genervt, rumgeschubst, veräppelt, ich habe nicht verstanden, was Tanja von der Protagonistin will, bis ich gemerkt habe, warum sie sie in ihrem Leben braucht. Tanja ist im selben Alter wie die Protagonistin, aber auf eine verrückte Weise allwissend und erwachsen – warum, ist Teil der Geschichte.
»Man entdeckt das Große im Kleinen, die Tragik im Banalen, das Schöne in einem Leberwurstbrot und formuliert es zu mal kurzen, mal langen Texten.«
Sie haben eine faszinierende Art, das Raue und Grobe des Dorfes mit einer oft poetischen Sprache zu beschreiben. Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Leben in der Provinz und wie nehmen Sie die Provinz wahr?
Das Dorf ist ein kleiner Kosmos, der nach seinen eigenen Regeln funktioniert, und das ausgesprochen gut – man darf halt nur nicht zu denen gehören, die dabei auf der Strecke bleiben. Wenn doch – und das passiert der Ich-Erzählerin – muss man einen anderen Blick darauf finden und lieben lernen, was man auf diese Weise zu sehen bekommt: Die Eigenartigkeiten, die logisch aufeinander wachsen wie Kristalle, die Träume, die dahinterstecken. Das hat an sich etwas sehr Poetisches und Wahres, was man nicht sofort sieht, weil es so grob und rau erscheint. Diese Oberfläche reflektiert nicht von selbst. Das wiederum bietet eine wahnsinnige Fallhöhe, um in diesem unerbittlichen Kosmos Schicksale zu verhandeln.
Ich betrachte Sprache da gleichzeitig als Politur und als das Seidenpapier, in das man das kantige Dorf einschlägt, um es dem Leser zu überreichen, ohne dass der sich daran reißt oder schneidet.
Sie arbeiten als Lehrerin an einem Gymnasium in Bielefeld, haben schon für die »heute show online« und das ZeitMagazin geschrieben und sind nun auch noch Romanautorin – wie laufen all diese Fäden zusammen?
Die Welt, die Menschen, ihre Schrullen, Ängste, Freuden, Perspektiven und vermeintliche Kleinigkeiten zu beobachten, ist ja die große Gemeinsamkeit all dieser schönen Jobs. Man entdeckt das Große im Kleinen, die Tragik im Banalen, das Schöne in einem Leberwurstbrot und formuliert es zu mal kurzen, mal langen Texten – und das bestenfalls schneller als die Fünftklässler.
Mich interessiert dieser Perspektivwechsel sehr. Die Jugendlichen kommen aus ganz unterschiedlichem Welterleben zusammen - da sitzen Kriegsflüchtlinge und ehemalige Kindersoldaten neben uns Landeiern, und alle lernen auf ganz unterschiedliche Weise - ich vermutlich das meiste. So gibt dieses Zusammensein viele Anreize zum Schreiben.
Spannend ist natürlich die unterschiedliche Tiefe, Härte, Ausführlichkeit, Vermittlungsebene sowie die Sprache, die bei jeder der drei Aufgaben ganz unterschiedlich ist und jeweils ihre ganz eigenen Möglichkeiten hat. Wenn das eine auf das andere abfärbt – umso besser!