Interview mit Franka Frei
Franka Frei spricht über "Überfällig" (ET: 20.04.2023)
Du schreibst über Verhütung, wie bist du zum Thema gekommen und was ist deine Erfahrung damit?
An meinem 14. Geburtstag bekam ich die Pille verschrieben – nach weniger als 10 Minuten „Aufklärungsgespräch“ – dazu gab es einen gratis Schminkspiegel. Dass ich über die nächsten vier Jahre täglich ein Medikament schluckte, das erheblichen Einfluss auf meinen Körper, meine Psyche und mein Wesen nehmen kann, war mir wie den meisten Frauen in meinem Umfeld nicht bewusst. Ich kämpfte mit Depressionen, Haut- und Gewichtsproblemen, hinterfragte aber wenig. Mit Anfang 20 ließ ich mir unter Schmerzen die Kupferspirale einsetzen und landete mit heftigen Nachblutungen in der Notaufnahme. Verhütung an sich ist eine großartige Sache, aber sie ist nicht umsonst. Frauen zahlen mit körperlichen, seelischen, zeitlichen und finanziellen Kosten.
Spätestens im Zuge meiner Arbeit als Menstruationsaktivistin fing ich an, die Selbstverständlichkeit zu überdenken, mit der wir schon in jungen Jahren lernen, die Pille zu nehmen. Zum Kinderkriegen gehören mindestens zwei – warum sollten nicht auch Männer zumindest die Möglichkeit haben, mehr Verhütungsarbeit zu leisten? Wir verbieten ihnen doch auch nicht, sich in der Kindererziehung und im Haushalt einzubringen.
Dass Verhütung so asymmetrisch verteilt ist, liegt weniger an der Biologie der Geschlechter, sondern einer Kultur, die Ungerechtigkeiten für naturgegeben erklärt. Die Art, wie wir verhüten, verrät allgemein sehr viel über unsere Gesellschaft: Anhaltende patriarchale und rassistische Muster, ein System, in dem Profite vor Gesundheit und Umweltschutz gehen.
Alice Schwarzer spricht von „Geschenk Gottes“ – doch: Wie feministisch ist die Pille wirklich?
Es besteht kein Zweifel daran, dass Kontrazeptionsmittel enorm wichtig für die Selbstermächtigung sind. Allein dadurch, dass sie Menschen mit Uterus Möglichkeiten gibt, selbst zu bestimmen, wann, ob und mit wem man Kinder möchte. Doch wenn wir aber auf die Entwicklungsgeschichte der Pille blicken, sehen wir, dass die Motivation hinter der Forschung an Verhütungshormonen auf „Rassenhygiene“ und auf der Panik vor Überbevölkerung beruht. Nach dem Ende der Kolonialzeit kamen Ängste auf, besonders die nichtweiße und die arme Bevölkerung vermehre sich viel zu schnell. Die Motivation nach einer Verhütungsmethode war rassistisch, klassistisch und eugenisch unterfüttert. Erste Forschungsversuche mit Hormonen fanden an inhaftierten Frauen in Ausschwitz statt. Die Studien für die erste Antibabypille führte man in Puerto Rico durch. Die meisten Probandinnen wurden damals nicht darüber aufgeklärt, dass sie Teil eines Experiments waren und auch bei sehr starken Nebenwirkungen nicht ernst genommen. Bis heute bleibt die Pille für viele Frauen im globalen Süden zu teuer oder nicht zugänglich. Stattdessen werden sie nicht selten mit minderwertigen Präparaten versorgt, die in Deutschland teilweise vom Markt genommen wurden oder nicht mal zugelassen sind.
Mittlerweile könnte es längst mehr Innovationen für Kontrazeptionsmittel mit weniger Nebenwirkungen geben – die Palette an Möglichkeiten könnte quasi doppelt so breit sein. Doch bessere Alternativen, besonders geschlechterübergreifende sind oft medizintechnologisches Neuland und kosten enorm viele Forschungsgelder, die niemand bereitstellen will. Letztendlich ist die Entscheidung ob und wie verhütet wird, sehr individuell. Daher geht es auch nicht darum, die Pille zu verteufeln, sondern die Palette an Optionen zu erweitern, sodass jede Person entsprechend der eigenen Lebensrealität das passende Mittel finden kann. Frei von Druck, Zwang und Alternativlosigkeit. Im Sinne tatsächlicher Wahlfreiheit und Selbstbestimmung.
Du bezeichnest die Pille als „Umweltkiller“, was genau hat es damit auf sich?
Weil die Hormone der Antibabypille zu klein sind, um sie aus dem Wasser zu filtern, geraten sie durch Urin der Anwender:innen ins Grundwasser. In Kanada ist Forschenden zufolge bereits eine ganze Fischspezies ausgestorben, weil es durch den hohen Östrogenspiegel in den Flüssen kaum noch männliche Fische gibt. Besorgniserregende Beobachtungen zeigen ähnliche Effekte auch bei Schafen, die auf mit Abwasser gedüngten Wiesen grasten. Die Pille trägt mit ihrer hohen Hormondosis zum Artensterben bei. Und das ist für uns Menschen enorm gefährlich, denn mit jeder von dieser Welt verschwindenden Spezies nähern wir uns weiter einem Kollaps der Ökosysteme.
Gleichzeitig bedeutet das auch, dass wir mittlerweile alle in irgendeiner Form die Pille nehmen – ob wir wollen oder nicht. Seit Jahrzehnten haben wir es mit immer höheren Zahlen von ungewollter Kinderlosigkeit in westlichen Ländern zu tun. Zunehmend Menschen – besonders Männer – sind unfruchtbar. Das sollte dringend besser untersucht werden.
Woran scheitert bisher männliche Verhütung?
Schon Anfang der 50er – bereits vor der Entwicklung der ersten Antibabypille – gab es klinische Studien mit hormonfreien Substanzen und Warmwasserbädern für die Hoden mit vielversprechenden Ergebnissen. Dass Verhütung bei spermienproduzierenden Menschen sowohl hormonell als auch nicht-hormonell quasi genauso gut funktionieren kann wie bei Menschen mit Eizellen, ist also keine Neuerkenntnis. Heute gibt es unzählige Studien mit möglichen Mitteln für eine längerfristige, reversible Verhütungsmethode „für den Mann“. Der Wissenschaft sind mehr als 150 Ansätze bekannt! Doch seit dem Contergan-Skandal haben sich die Zulassungskriterien für Medikamente enorm verschärft. Auch Geschlechterrollenklischees und verrostete Vorstellungen von Männlichkeit verhindern Innovationen. Studien wurden immer wieder aufgrund von Nebenwirkungen abgebrochen, die für hunderte Millionen von Frauen gang und gebe sind. Schuld daran sind jedoch nicht die oft als „weinerlich“ dargestellten Studienprobanden. Nebenwirkungen von Kontrazeptionsmitteln werden bei Männern in der Medizin anders bewertet, weil es heißt, dass sie am eigenen Leib keine Schwangerschaft samt all den gesundheitlichen Risiken befürchten müssen.
Schon seit mehr als 40 Jahren heißt es, wir stünden in mit einer Art Pille für den Mann kurz vorm Durchbuch. Tatsächlich droht die Forschung daran aber seit dem Abbruch der letzten, groß angelegten Studie vor zwölf Jahren zunehmend zum Erliegen zu kommen – auch wenn der alle paar Jahre aufkommende Medienhype um eine Art Pille für den Mann einen anderen Eindruck vermitteln mag. Die Pharmaindustrie ist nicht involviert und ich kenne kein Medikament, das es ohne ihre Unterstützung auf den Markt geschafft hat.
Warum regelt der Markt das nicht „von alleine“?
Seit der problematischen Entstehungsgeschichte der Pille wächst der Milliardenmarkt mit der Verhütung immer weiter – quasi von selbst. Weltweit haben sich Distributionswege und Forschungszweige auf dem Gebiet verbessert, es gibt medizinisches Personal, Familienplanungszentren, gynäkologische Praxen und gesellschaftliches Verständnis, die Pille und Co. in den gesellschaftlichen Alltag integriert haben. Bei einer Verhütungsmethode für Männer müsste das alles von Grund auf geschaffen werden.
Für die Pharmaindustrie lohnt es sich nicht, zu investieren. Die Aufwände wären zu hoch, Tests und Studien extrem teuer und die Dringlichkeit wird nicht gesehen. Oft heißt es auch, dass die Männer ohnehin kein Interesse hätten, obwohl Studien und Umfragen ganz anderes verraten, besonders in der jungen Generation. 80 Prozent der Männer in den USA, die zwischen 1997 und 2005 auf die Welt gekommen sind, würden gerne selbstständig verhüten.
Doch: Warum intervenieren und womöglich auch noch den eigenen Markt schwächen mit etwas, das so viel Geld kostet und mit Risiken verbunden ist? Immerhin geht es hier nicht um die Entwicklung eines neuen Videospiels sondern um ein Medikament, das in die menschliche Reproduktion eingreift – eine heikle Sache.
Wie sieht die Zukunft der Verhütung aus?
Auf meinen Recherchen habe ich viele Männer kennen gelernt, die bereits ganz aktiv nach Alternativen zum Kondom suchen – und sie teilweise schon fanden. In Frankreich nutzen zum Beispiel tausende Männer einen hormonfreien Silikonring zur Verhütung, Tendenz steigend. Dahinter steckt ein wachsendes Netzwerk einer Bewegung aus Menschen verschiedenen Geschlechts, die sich für bessere und gerechtere Verhütung für alle einsetzt. Im hessischen Butzbach haben vier Ingenieure zudem ein Gerät entwickelt, das durch den speziellen Einsatz von Wärme Spermien unfruchtbar macht. Die Prozedur haben sie an sich selbst erprobt, sie sei komplett schmerzfrei – und ausreichend, um für die nächsten sechs Wochen unfruchtbar zu sein. Zur Überprüfung wurde sogar eine App entwickelt, mit der sich von zu Hause ganz einfach ein eigenes Spermiogramm erstellen lässt. Damit können Anwendende direkt checken, ob sie für den Moment wirklich zeugungsunfähig sind. In den USA, Indien und Australien wird außerdem schon seit Jahrzehnten ein Mittel getestet, das völlig hormonfrei den Samenleiter vorübergehend blockiert – die Substanz löst sich nach ein paar Jahren von selbst auf oder wird durch einen einfachen Eingriff beseitigt. Solche Mittel könnten für viele eine gute umweltfreundliche, zeit- und gesundheitsschonende Alternative zur Pille und anderen hormonellen Mitteln darstellen. Doch es braucht uns alle alle, um eine Methode wie diese durchzusetzen.
Ich bin mir sicher: Viel mehr Männer würden Verhütungsarbeit übernehmen, wenn sie nur davon wüssten.
Warum ist die Forderung nach einer „Pille für den Mann“ nicht nur geschlechterpolitisch relevant?
1,9 Milliarden Menschen auf der Welt sind Frauen im reproduktiven Alter, die Hälfte davon nutzt Mittel, um ungewollte Schwangerschaften zu verhindern. Dass sie dies tun, nimmt immensen Einfluss auf ihr eigenes Wohlergehen, ihre Freiheit und ihre Rechte, aber auch auf das gesellschaftliche Zusammenleben, die Wirtschaft und die Umwelt. Verhütung ist keine Nischenangelegenheit, sondern ein Politikum, das uns alle etwas angeht.
Hinter der Forderung für mehr geschlechtergerechte Verhütung steht sehr viel mehr als nur die Entwicklung einer „Pille für den Mann“. Verhütungsgerechtigkeit bedeutet auch antirassistische und umweltfreundliche Kontrazeption, das Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten. Es geht um ein gesamtgesellschaftliches Umdenken, weg von Rücksichtslosigkeit und eigenem Profitdenken (was springt dabei für mich raus? Habe ich davon nicht Nebenwirkungen?) hin zu einem neuen Bewusstsein von sozialer Verantwortung, unabhängig vom Geschlecht, und das auch weit über Verhütungsfragen hinaus.
Constanze Schwarz