Sie sind als Sohn türkischer Eltern in einer hessischen Kleinstadt groß geworden. Was hat Sie dazu bewogen, sich so intensiv mit dem Thema „Männlichkeit“ zu beschäftigen?
Ich habe schon seit meiner Kindheit eine Ambivalenz verspürt, weil ich einige Vorstellungen, die Freunde über den „richtigen“ Mann hatten, nicht ganz verstehen und performen wollte. Die Beschäftigung mit Männlichkeit war für mich in erster Linie ein Versuch, mich und die Art und Weise, wie ich von der Gesellschaft gelesen werde, zu verstehen und zu begreifen. Das heißt: zu realisieren, dass man als Cis-Hetero-Mann durch die eigene Sozialisation und persönliche Entscheidungen daran beteiligt ist, patriarchale Strukturen zu reproduzieren und zu manifestieren. Gleichzeitig aber auch offenzulegen und zu problematisieren, wie türkisch-muslimisch gelesene Männer in unserer Gesellschaft diskriminiert werden. Die Herausforderung ist, die Komplexitäten und Zwischentöne im Blick auf Männlichkeit nicht auszublenden.
In Ihrem Buch Im Morgen wächst ein Birnbaum wird deutlich, dass Sie eine enge Bindung zu Ihrem Vater haben und man sagt ja, dass das Rollenbild eines Jungen vor allem durch den Vater geprägt wird. Welche Rolle spielen die Frauen in Ihrer Familie bei der (De-)Konstruktion von Männlichkeiten?
Vielleicht sogar die wichtigere! Ohne die (emotionale) Care-Arbeit meiner zwei großen Schwestern und meiner Mama sowie vieler Freundinnen hätte ich überhaupt nicht verstanden, wie sehr mein Vater, aber auch sein Umfeld ebenfalls durch das Patriarchat verletzt und eingeengt werden. Meine Schwestern waren immer Vorbilder für mich. Und gleichzeitig hielten sie mir den Rücken frei. Bei ihnen durfte ich mich in meiner Ambivalenz und Fragilität zeigen, und diese in mir kultivieren. Das hat mich erst in die Lage versetzt, den Weg zur Auseinandersetzung mit Männlichkeit zu finden, der dann letztlich über meinen Vater führte.
Was hat es mit dem titelgebenden Birnbaum auf sich, der in Ihrem Leben eine wichtige Rolle spielt und auf den Sie im Buch immer wieder zurückkommen?
Der Birnbaum ist eine Konstante in meinem Leben, die sich mir erst spät in ihrer Bedeutung gezeigt hat. Mein Vater pflanzte den Baum zu meiner Geburt in den Garten unseres Ferienhauses, wo er noch immer steht. Unsere Realitäten treffen sich im Blick auf den Birnbaum. Er ist unser Bezugspunkt und ein Versprechen, die Sehnsucht nach Veränderung und gleichzeitig nach Beständigkeit nie aus den Augen zu verlieren – und damit auch uns selbst nicht.
Weshalb haben Sie für Ihr autobiografisches Buch eine literarische, fast poetische Herangehensweise gewählt?
Weil es der einzige Zugang war, der sich richtig angefühlt hat. Dabei habe ich viel von der türkischen Sprache gelernt und abgeschaut. Sie hat mich emotional und in meinem Schreiben mehr geprägt als die deutsche Sprache. Sie steckt voller Hingabe, Überzeichnung, Hoffnung, Unbehagen und sieht mich in einer Unmittelbarkeit, die mir im Deutschen oft fehlt. Bei uns zuhause wurde viel gesungen, viel gespielt, viel vorgetragen. Der Ton spiegelt mich wieder. Er war eine logische Konsequenz.
Welche Hoffnung haben Sie für die Zukunft, was Themen wie (toxische) Männlichkeit, Rollenbilder und Geschlechtergerechtigkeit betrifft?
Dass besonders Cis-Männer aktiv daran teilhaben, patriarchale Strukturen zu überwinden. Das Buch versteht sich als notwendige literarische Annährung an die Komplexitäten des Mann-Werdens in einer Migrationsgesellschaft aus der Perspektive einer als muslimisch-türkisch gelesenen Person. Mein Wunsch ist, dass mehr Cis-Männer sich trauen, fragil zu sein, Nähe zuzulassen und vor allem aktiv für eine geschlechtergerechte Welt einzustehen. Und das heißt auch, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen.