Aktuelles | 26.10.2021 | C. Bertelsmann

Im Winter Schnee, nachts Sterne. Geschichte einer Heimkehr

F.Geda und E. Akbari, Foto: Paolo Siccardi

Ein Gespräch mit Enaiatollah Akbari und Fabio Geda.

Vor zehn Jahren erschien Fabio Gedas international erfolgreiches Buch „Im Meer schwimmen Krokodile“. Es erzählt, wie der zehnjährige Enaiatollah Akbari aus Afghanistan flieht und erst nach Jahren allein in Europa ankommt. Nun beschlossen beide zusammen eine Fortsetzung von Enaiats Geschichte zu schreiben. „Im Winter Schnee, nachts Sterne. Geschichte einer Heimkehr“ zeigt, wie es Enaiat gelingt, in Italien eine neue Heimat zu finden und warum er dafür zunächst zu seinen Wurzeln zurückkehren muss:

Fabio, „Im Winter Schnee, nachts Sterne“ haben Sie – anders als das erste Buch über Enaiats Flucht -  gemeinsam geschrieben. Wie sind Sie vorgegangen, was war anders?

FABIO GEDA: Ähnlich wie bei „Im Meer schwimmen Krokodile“ gab es lange Gespräche, viele Fragen von mir und eine große Bereitschaft von Enaiat, Ereignisse, Gefühle und Gedanken zu erzählen und zu ordnen. Der Unterschied aus erzählerischer Sicht war, dass wir beim letzten Mal eine klassische Heldenreise hatten, also die Geschichte eines Jungen, der von Punkt A nach Punkt B gelangen muss, indem er viele Schwierigkeiten überwindet. Dieses Mal jedoch hatten wir eine existenzielle Reise: Von einer Identität zur anderen, von einem Traum zum anderen, von einer Kultur zur anderen. Sicher ist, dass die Reise für Enaiat nicht weniger intensiv war als die Reise durch sechs Länder.
Beim letzten Buch war ich der Autor, ich habe seine Geschichte erzählt. In diesem Fall ist Enaiat der Autor seiner eigenen Geschichte. Deshalb stehen dieses Mal unsere beiden Namen auf dem Buch.


Enaiat, Sie leben seit 16 Jahren in Europa. Gibt es Situationen, in denen Sie sich noch fremd oder als Ausländer fühlen?

ENAIAT AKBARI: Was meinen rechtlichen Status betrifft, so fühle ich mich in Italien nicht als Ausländer, sondern ich bin immer noch ein Ausländer, weil ich noch auf die Staatsbürgerschaft warte. Aber abgesehen davon: Italien ist mein Zuhause, es ist der Ort, an dem ich mich entschieden habe zu leben, an dem ich eine Zukunft für mich und meine Familie aufbaue. Natürlich werde ich nie ein perfekter Italiener sein, so wie ich auch kein perfekter Afghane mehr bin. Ich bin ein neuer Mensch, eine neue Seele. Ich glaube, dass die Stärke des Migranten auch in dieser "Neuheit" verborgen ist. Allerdings würde ich jetzt wirklich gerne die italienische Staatsbürgerschaft erhalten, vor allem aus bürokratischen Gründen: Als Ausländer kann ich zum Beispiel nicht an öffentlichen Auswahlverfahren teilnehmen, obwohl ich alle meine Qualifikationen in diesem Land erworben habe. Aber ich bin geduldig und ich warte. 
 

Nehmen Sie kulturelle Unterschiede vielleicht auch verstärkt durch die Perspektive Ihrer afghanischen Frau wahr, die sie während Ihrer „Heimkehr“ kennenlernten und die noch nicht so lange in Italien lebt?

ENAIAT AKBARI: Ich liebe die italienische Kultur, in die ich jeden Tag eintauche, und ja, dank meiner Frau sehe ich jetzt Dinge, die ich vorher nicht gesehen habe. Eine lustige Sache? Wenn ich zum Beispiel mit gestikulierenden Händen spreche, bittet mich meine Frau manchmal, mich zu beruhigen, weil sie denkt, ich sei aufgeregt, und dann muss ich ihr erklären, dass ich überhaupt nicht aufgeregt bin, sondern dass das nur eine typisch italienische Ausdrucksweise ist, die inzwischen zu einem Teil von mir geworden ist.

 

Nach langer Zeit in Italien haben Sie sich dazu entschieden, nach Pakistan zu reisen, um Ihre Familie wiederzusehen. Wie haben Sie die Kultur und den Lebensstil dort erlebt?

ENAIAT AKBARI: Als ich nach 17 Jahren wieder in Pakistan, in Hazara Town, ankam, bemerkte jeder, dass ich irgendwie anders war, und oft brachen die Leute wegen eines "italienischen" Verhaltens in Gelächter aus. Wir hatten eine Menge Spaß. Das Gleiche galt für mich, denn ich war bestimmte Gewohnheiten, bestimmte Verhaltensweisen, den Umgang mit bestimmten Problemen des Lebens nicht mehr gewohnt. Wenn ich zum Beispiel auf den Basar ging, vermisste ich die Freiheit und Sicherheit, die ich in Italien genoss. Ich konnte die Angst der Menschen spüren, dass ein Kamikaze-Angriff oder Schüsse ihr Leben jeden Moment beenden könnten. Während meines Aufenthalts nahm ich an mehreren Beerdigungen von Menschen teil, die einfach deshalb getötet worden waren, weil sie Hazara, also Schiiten, waren. Ich hatte dieses Drama, diese ständige Gewalt gegen das eigene Leben, gegen die eigene Identität, in Italien langsam vergessen.

 

Die politische Situation in Afghanistan hat sich seit Ende des Sommers drastisch verändert – wie schätzen Sie die aktuelle Lage ein, und was erfahren Sie von Freunden oder Verwandten aus der Region?

ENAIAT AKBARI: Die Lage in Afghanistan ist dramatisch, viel dramatischer als die Fernseh- und Zeitungsberichte es darstellen. Es ist eine große Tragödie, die sich hier abspielt. Ich habe oft Kontakt zu Menschen, die in verschiedenen Teilen Afghanistans leben, und sie sagen mir, dass die Taliban noch dieselben sind wie vor 25 Jahren. Jeder lebt in der Angst, aus geringfügigsten Gründen von den Taliban beschuldigt, sogar erschossen zu werden, zum Beispiel wegen eines zu kurzen Bartes oder nicht vorschriftsgemäßer Kleidung. Die Taliban dringen unter dem Vorwand, nach Waffen zu suchen, in die Wohnungen der Menschen ein. Sie verfolgen und töten alle, denen sie Verrat am Islam und am Vaterland vorwerfen, nur weil sie mit dem Westen kollaboriert haben. Sie jagen und töten Journalisten und Intellektuelle, weil sie zur Entwicklung der Demokratie beigetragen haben. Sie suchen und töten ehemalige Soldaten und deren Familien. Sie wenden die Scharia an und ändern damit das soziale Verhalten jedes Einzelnen, insbesondere das der Frauen, denen sie jeden Traum, jede Errungenschaft der letzten Jahre rauben. Und natürlich sind sie sehr wütend auf die Hazara.

Und der afghanischen Bevölkerung steht ein harter Winter bevor, in dem es an allen lebensnotwendigen Gütern mangelt: In den kleinen Städten fehlen bereits Medikamente für die erste Hilfe, die Preise für Lebensmittel und Treibstoff sind in die Höhe geschnellt, und die wenigen Glücklichen, die mit der vorherigen Regierung zusammengearbeitet haben, erhalten seit vier Monaten keinen Lohn mehr. Ohne die Hilfe der reichen Länder könnten in den Wintermonaten Tausende von Menschen an Hunger und Krankheiten sterben.

Copyright C. Bertelsmann. Für Zitat- und Abdruckrechte aus dem Interview wenden Sie sich gern an den Verlag.

F. Geda, E. Akbari: "Im Winter Schnee, nachts Sterne. Die Geschichte einer Heimkehr"

Die Fortsetzung des internationalen Longsellers Im Meer schwimmen Krokodile", der längst moderner Klassiker und Schullektüre ist.

Als der Afghane Enaiatollah Akbari nach jahrelanger Flucht Europa erreichte, ohne Eltern, ohne Schulbildung, war er fünfzehn Jahre alt. Aus eigener Kraft musste er sich eine neue Existenz aufbauen. Dann lernte er den Schriftsteller Fabio Geda kennen und sein Leben nahm eine Wendung. Zusammen erzählen die beiden nun, wie es Enaiatollah gelang, den Schulabschluss zu machen und Politikwissenschaft zu studieren. Wie ihm die fremde Kultur immer vertrauter wurde, er neue Freundschaften schloss und sich trotzdem täglich nach seiner Familie in Afghanistan sehnte.
Bis er, 17 Jahre nach seiner Flucht, eine Rückkehr ins benachbarte Pakistan wagt. Wie fühlt es sich an, Verwandte und Freunde nach so langer Zeit wiederzusehen? Ehrlich, direkt und voller Poesie erzählt Enaiatollah von einer Reise, die zeigt, was es heißt, zwischen zwei Welten zu leben. Und die seinen Blick auf das Leben und seine Zukunft  für immer ändern wird.

 

Enaiatollah Akbari ist in Afghanistan geboren, wann genau, weiß er nicht. Die italienischen Behörden haben später sein Geburtsdatum auf den 1. September 1989 festgelegt. Mit zehn Jahren begann seine Flucht Richtung Europa. Als er viele Jahren später  in Italien ankam, wohnte er zunächst bei einer Gastfamilie, lernte Italienisch und studierte später Politikwissenschaft. Nach dem weltweiten Erfolg von Fabio Gedas Buch »Im Meer schwimmen Krokodile«, in dem Geda die Geschichte von Enaiatollahs Flucht erzählt, beschlossen beide, mit »Im Winter Schnee, nachts Sterne« eine Fortsetzung zu schreiben.

Fabio Geda, 1972 in Turin geboren, arbeitete lange als Lehrer, bevor er sich dem Schreiben widmete. Bereits sein erster Roman »Emils wundersame Reise« war in Italien ein Überraschungserfolg; das Buch »Im Meer schwimmen Krokodile« brachte ihm auch international den Durchbruch, es verkaufte sich in 33 Länder und ist zu einem modernen Klassiker geworden.

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