»Ich sehe mich in der Position eines Brückenbauers. Über die Figuren kann ich ohne Kitsch und Kunstgriffe eine Nähe zwischen den Welten herstellen.«
Sherko Fatah im Interview über seinen neuen Roman „Der große Wunsch“, seine Beziehung zum Nahen Osten und die Verführung der Menschen durch Ideologie und Religion
Herr Fatah, Sie beschäftigen sich in Ihren Büchern mit dem Nahen Osten. Woher kommt Ihr großes Interesse an dieser Region und seiner Geschichte?
Durch meine Familie väterlicherseits bin ich eigentlich mein ganzes Leben lang mit den historischen und den jeweils aktuellen Ereignissen im Nahen Osten konfrontiert gewesen. Ich habe also sozusagen in zwei Welten gelebt, und das hat sich auf meine schriftstellerische Arbeit ausgewirkt.
Die Verbindungen zwischen dem Nahen Osten und Deutschland sind zahlreicher, als viele wahrscheinlich vermuten würden. Ist es Ihnen ein Anliegen, diese sichtbar zu machen?
Diese Verbindungen sind historisch und aktuell in der Tat zahlreich. Zu manchen Zeiten ist uns das bewusster als zu anderen. Das hängt heutzutage sehr stark von der Nachrichtenlage ab. Als mein Anliegen würde ich das Aufzeigen dieser Verbindungen nicht bezeichnen. Ich sehe mich eher in der Position eines Brückenbauers. Die Literatur kann unterschiedliche Welten in eine besondere Verbindung bringen. Das Besondere liegt für mich als Schriftsteller darin, menschliche Einzelschicksale anstatt historischer Großereignisse in den Blick zu nehmen. Über die Figuren kann ich nach Möglichkeit ohne Kitsch und Kunstgriffe eine Nähe zwischen den Welten herstellen.
In Ihrem neuen Roman „Der große Wunsch“ reist ein Vater von Berlin ins türkisch-syrische Grenzgebiet, um seine 19-jährige Tochter Naima zu suchen. Sie ist nach Syrien aufgebrochen, um dort einen sogenannten Gotteskrieger zu heiraten – was Murad, den Vater, fassungslos macht. Eine abschließende Antwort auf die zentrale Frage, warum die im Westen aufgewachsene, emanzipierte junge Frau diesem extremen religiösen Fanatismus erliegt, bleibt ihm verwehrt. Sind Sie selbst diesem Phänomen nähergekommen?
Die Frage nach der Verführbarkeit des Menschen, sei es durch Ideologien oder Religionen, taucht in vielen meiner Romane auf. Das hat mit meinem Menschenbild zu tun: Es mag gut und richtig sein, in Frieden, Freiheit und Wohlstand der Vorstellung anzuhängen, man sei Herr oder Herrin des eigenen Schicksals. Was aber tue ich, wenn mein Umfeld nicht nur repressiv, sondern irregeleitet ist? Wenn starke, einflussreiche Menschen, die eigentlich Vorbilder sein sollten, selbst verblendet sind? Oder wenn die Not mich zwingt, fragwürdige existenzielle Entscheidungen zu treffen? Das waren schon immer Fragen, die mich beschäftigt haben. Der neue Roman gibt keine letztgültigen Antworten, aber – hier ist wieder die menschliche Perspektive wichtig – nähert sich dem Phänomen an. Letztlich muss es Spekulation bleiben, wie viel Abenteuerlust, jugendliche Dummheit oder auch rücksichtslose Grausamkeit nötig waren, um Murads Tochter Naima zu ihrem Schritt zu verführen.
Im Buch steht ein Vater im Mittelpunkt, der das Gefühl hat, bei seiner Tochter versagt zu haben. Was ist das für Sie, eine gut funktionierende Vater-Tochter-Beziehung?
Es wird öfter gesagt, und mein Protagonist Murad ist sich dessen auch bewusst, zumal er sich eine Mitschuld an der Verirrung seiner Tochter gibt: Er hätte sie begleiten, ihr dabei jene Freiheiten gewähren müssen, die sie für ihre Entfaltung brauchte, sie aber auch vor Gefahren und schweren Fehlern bewahren müssen. Ein schwieriges Unterfangen, zumal in Zeiten der unbegrenzten Beeinflussung aus fragwürdigen Quellen. Murad ist daran, davon ist er überzeugt, gescheitert. Jetzt trägt er Naima seine Liebe sozusagen nach in ein fremdes Niemandsland, er begibt sich in Gefahr, mit dem unerreichbaren Ziel, Versäumtes wiedergutzumachen.
Für Murad fängt in der Türkei eine quälende Wartezeit an, er hofft täglich auf Nachrichten von Boten und Schleusern. Sie beschreiben die Landschaft und die Menschen vor Ort sehr eindringlich. Waren Sie selbst zu Recherchezwecken dort?
Ich kenne die Region sozusagen als Tourist mit besonderem Hintergrund. Es lässt sich sicherlich allgemein sagen, dass man viel Geduld braucht, um dort eine so schwierige Unternehmung wie die Murads zum Erfolg zu führen. Und das ist es, was ich zeigen wollte: Die Abhängigkeiten, in die dieser Vater auf der Suche nach seiner Tochter gerät, sind ebenfalls Verwicklungen, über die er keine Kontrolle mehr hat. Darunter leidet er, aber es ist eine Erfahrung, die er mit vielen meiner Protagonisten teilt: Kontrolle über die Dinge des Lebens ist ein Idealzustand und auch unter den besten Bedingungen nur zeitweilig zu haben.
Haben Sie das Gefühl, dass Radikalisierungen in alle Richtungen bei jungen Menschen zunehmen?
Das Phänomen betrifft durchaus nicht nur die Jugend. Die allgemeine Weltuntergangsstimmung und identitäre Diskurse von verschiedenen Seiten des politischen Spektrums begünstigen nach meiner Ansicht Radikalisierungen jeder Art. Im Roman will sich Naima vielleicht auch nur neu erfinden, das zumindest ist ein Gedanke Murads zu ihrem Motiv. Das Bedürfnis, jemand sein zu wollen, ist, zumal bei Jugendlichen, nichts Neues. Bestürzend bleibt die Rücksichtslosigkeit gegen andere, mit der dieses Bedürfnis ausgelebt wird. Die religiös-ideologischen Gründe dafür treten dabei in den Hintergrund, denn in Wahrheit ist Naimas Entscheidung eine Entscheidung über Leben und Tod von anderen, ihr völlig unbekannten Menschen. Das ist ein universelles Thema, es lässt sich nicht auf den Dschihadismus reduzieren. Was ich beschreibe, sind, um eine Formulierung Sartres zu verwenden, Wege der Freiheit, die bei mir aber ins Unglück führen.
Durch Pandemie und Ukraine-Krieg ist der Terror in Syrien ein wenig aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Die islamistischen Gotteskrieger sind aber nach wie vor aktiv. Wie schätzen Sie die aktuelle Lage ein?
Was als öffentliche Wahrnehmung bezeichnet wird, ist nichts weiter als eine vermittelte Form des Vergessens und Verdrängens. Die leicht zu erschöpfende Aufmerksamkeit des Nachrichtenpublikums kann im Grunde nur einen, vielleicht zwei aktuelle Konflikte verarbeiten. Das sagt aber nichts über den Zustand der Welt. Der Dschihadismus mag im Augenblick zurückgedrängt sein. Der liberale Westen aber bleibt durch ihn ebenso wie durch den sich ausbreitenden Autoritarismus (Russland, China, Indien usw.) bedroht. Schlimmer noch, viele seiner Feinde bewohnen diesen liberalen Westen längst und nutzen seine Freiheiten für ihre heillosen Zwecke. Als ein Autor der Globalisierung und der globalen Migrationsbewegungen suche ich nach erzählerischen Wegen, den Zusammenprall, aber auch das Zusammenleben verschiedener Kulturen ohne naive Apologetik literarisch zu gestalten.
Was macht Ihnen – trotz allem – Hoffnung?
Wachsamkeit, Einfühlung und politische Vernunft, wann und wo immer ich auf sie treffe.
Fragen von Elsa Antolín und Miriam Spinrath / Luchterhand Literaturverlag
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Elsa Antolin