Aktuelles | 26.09.2024 | der Hörverlag, C. Bertelsmann

"Für mich war der Westen wie ein Intershop: Glitzer und riecht nach Erdbeerkaugummis."

Jördis Triebel und Margarethe Adler

Schauspielerin und Hörbuchsprecherin Jördis Triebel im Gespräch mit Autorin Margarethe Adler über den Mauerfall, ostdeutsche Identität und berührende Zeitzeugenberichte.

Der Fall der Berliner Mauer vor 35 Jahren markiert einen Wendepunkt in der deutschen und europäischen Geschichte. Die Stunde der Mauersegler von Margarethe Adler beleuchtet die persönlichen Schicksale hinter den historischen Ereignissen und verknüpft sie mit der Gegenwart. Basierend auf authentischen Zeitzeugenberichten aus der DDR folgt er einer Familie durch die Zeit der deutschen Teilung, den Mauerfall und die Herausforderungen der Wiedervereinigung. Am 23. Oktober erscheint der Roman sowohl als Buch (C. Bertelsmann) als auch als Hörbuch (der Hörverlag).

Als gebürtige Ost-Berlinerin und Augenzeugin des Mauerfalls ist Jördis Triebel die ideale Sprecherin für die Hörbuchfassung. Auch Autorin Margarethe Adler war begeistert von dieser Besetzung und besuchte die Schauspielerin und Sprecherin während der Aufnahmen im Tonstudio. Im Gespräch tauschen sich die beiden über die Entstehung des Romans und die emotionale Tiefe, die das Projekt für beide mit sich brachte, aus.

Für Ihre Rezensionen des Buchs oder Hörbuchs können Sie gerne auf das Gespräch als Audio oder Transkript und die Fotos zurückgreifen.

Autorin und Sprecherin im Gespräch

Teil 1

Frage an Margarethe Adler: Wie ist es für Sie, den eigenen Roman nun im Tonstudio von Jördis Triebel gelesen zu hören? Erleben Sie Ihren Text vielleicht noch einmal neu?

Margarethe Adler: Ich habe mich total gefreut zu kommen. Ich könnte ehrlich gesagt stundenlang zuhören. Für mich ist das wirklich noch mal ein Zurücktreten vom Roman. Die Abgabe ist ja schon lange her, das Buch ist lektoriert worden und hat verschiedene Bearbeitungsstufen durchlaufen. Und jetzt hier zu sitzen und zu hören, wie jemand anderes das nimmt und liest... Ich bekomme das noch mal vorgelesen, kriege auch ein Stück Distanz zu dem Stoff und höre selbst zu, weil so viel Zeit vergangen ist. Ich entdecke das tatsächlich neu und freue mich über gewisse Stellen, wo ich denke: „Ach ja, das ist gut“. Trotzdem ist es auch sehr aufregend, weil ich natürlich ein bisschen Sorge habe: „Oh, vielleicht höre ich jetzt Dinge, die ich heute anders machen würde.“ Schreiben ist für mich nie ein abgeschlossener Prozess. Man muss mir das Manuskript irgendwann letztlich mit einem Abgabetermin wegnehmen, sonst würde ich wahrscheinlich ewig daran schreiben. Insofern war das jetzt ganz toll.

 

Teil 2

Frage an Margarethe Adler: Wie ist die Idee zum Roman entstanden und wie war der Rechercheprozess?

Margarethe Adler: DDR war immer Teil meines Lebens. Ich bin in Westberlin aufgewachsen, und am Ende der Straße, in der ich gewohnt habe, war die Mauer. Für uns war die Alltag. Sowohl die Familie meines Vaters als auch die meiner Mutter waren durch die Mauer geteilt worden. Also sind wir wirklich zu jedem Feiertag in die DDR und immer an verschiedene Orte, weil die Familien verstreut gewohnt haben. Und ich habe den Mauerfall miterlebt, also war das Thema für mich immer ganz präsent. Mein Mann ist auch aus der ehemaligen DDR.  Wäre die Mauer nicht gefallen, gäbe es uns als Paar nicht und auch den Sohn nicht. Ich habe irgendwann tatsächlich festgestellt, dass in meinem Freundinnenkreis und Bekanntenkreis unglaublich viele Geschichten noch nicht erzählt worden sind, von denen ich über Nachfragen erfahren habe: „Was ist da passiert?“ Also zum Beispiel diese Flucht- oder Ausreisegeschichten.

Jördis Triebel: Und sind das echte Zeitzeugenberichte?

 Margarethe Adler: Ja.

Jördis Triebel: Aber aus verschiedenen Familien?

Margarethe Adler: Ja, also das ist nicht aus meiner Familie. Ich habe wirklich Interviews mit verschiedensten Leuten geführt. Ich habe [für das Buch] natürlich Dinge hinzuerfunden, ich durfte aber damit arbeiten, ich durfte das verdichten. Ich habe Figuren geschaffen, die gab es so nicht. Keine dieser Figuren hat real existiert, aber ganz, ganz viele Sachen, die in dem Buch geschehen oder vorkommen, haben sich so zugetragen. Ich fand das ganz berührend, so eintauchen zu dürfen, in anderer Menschen Leben und Familiengeschichten. Das zur Verfügung gestellt zu bekommen, um damit kreativ und schreibend zu arbeiten, um etwas zu erzählen über eine Zeit, die vergangen ist. Und trotzdem ist es ganz nah. Ich habe mit einigen relativ regelmäßig zu tun und wusste vieles davon nicht. Wenn man dann nachfragt, kommen plötzlich ganz überraschende Geschichten zu Tage, wo ich dachte: „Wie, das ist wirklich passiert?“

Jördis Triebel: Das sind ja immer ganz individuelle Geschichten, egal, wen man fragt.

Margarethe Adler: Ja. Das war auch wirklich sehr, sehr emotional und sehr ergreifend zum Teil. Damit hatte ich gar nicht gerechnet, und es war auch für mich das erste Mal, dass ich wirklich Zeitzeugen  interviewt habe für einen Roman. Bisher hatte ich eher mit Stoffen gearbeitet, bei denen es keine Zeitzeugen mehr gibt. Das war eine ganz neue Erfahrung und es war sehr herausfordernd, ganz emotional. Auch das Gefühl zu haben, das ist eine Verantwortung, die ich damit übernehme, das so aufzubereiten, dass es sich für die anderen trotzdem gut anfühlt. Und dass es wahr ist, aber trotzdem so bearbeitet ist, dass es nicht deren Lebensgeschichte ist.

 

Teil 3

Frage an Jördis Triebel: Sie wählen Ihre Hörbuch-Projekte sehr bewusst aus. Was hat sie bewogen, für diese Aufnahme zuzusagen?

Jördis Triebel: Was mich an dem Buch total interessiert hat, sind diese vier verschiedenen Generationen Geschichte. Was mich generell interessiert sind Familiengeschichten, wo über Dinge nicht gesprochen wird und die sozusagen weitergegeben werden. Oft ist es dann wirklich die jüngere Generation, die eben Fragen stellt und dann vielleicht erst diese Dinge auflösen kann. Das hat mich interessiert, und, wie diese vier verschiedenen Frauen auf diese Zeit zurückblicken, und wie sie so geworden sind, wie sie sind, oder sie zu den Entscheidungen gebracht wurden, die sie dann für ihr Leben, für sich selbst, treffen. Das finde ich wahnsinnig spannend. Und natürlich finde ich generell Zeitzeugenberichte toll, weil jeder eben individuell diese Zeit erlebt hat. Selbst ich mit meinen [damals] 11 Jahren. Für mich ist die Zeit natürlich noch mal ganz anders, weil ich gar nicht alt genug war, um so viel zu begreifen, was in diesem Land passiert, und vieles so selbstverständlich hingenommen habe und für mich die DDR einfach das Land ist, das meine Kindheit war und in das ich nicht mehr zurückkehren kann; dass für mich die Wiedervereinigung eher ein großer Schock war als der große Glücksrausch. Das wird immer ein Thema bleiben, was mich selbst auch beschäftigt. Ich mache viele Filme oder Serien, die irgendwie immer mit diesem Thema umgehen. Das ist auch eine Suche nach der eigenen Biografie. Ich finde es einfach wahnsinnig wichtig, dass immer wieder darüber gesprochen wird. Nicht in einer Form, wie es jahrelang war, von Oberflächlichkeit oder Klischees, sondern wirklich einzelnen Schicksalen.

 

Teil 4

Frage an Jördis Triebel: Berührt es Sie als Zeitzeugin besonders, einen Roman zu diesem Thema einzulesen?

Jördis Triebel: Ich hatte heute noch mal Gänsehaut, dreimal jetzt. Während der Corona-Pandemie war ich erstaunlich ruhig. Und ich habe mir dann selbst beantwortet, dass es daran lag, dass ich schon mal in meinem Leben etwas erlebt habe, wo vom einen auf den anderen Tag die Welt sich komplett verändert hat. So war das eben damals auch, und diese Momente – ich bin damals auf die Montagsdemonstration gegangen und das war einfach – ich war ein Kind, aber trotzdem – es war so eine eindrucksvolle Zeit, die ich mit nichts vergleichen kann. Deswegen kriege ich da einfach total Gänsehaut, wenn es um sowas geht.

Margarethe Adler: Mir geht es auch so, wenn ich die Bilder im Fernsehen sehe vom Mauerfall. Ich habe ja mit dem Thema gearbeitet und recherchiert, auch vorher, in anderen Zusammenhängen. Ich kann die auch bis heute nicht sehen, ohne dass ich Gänsehaut habe oder auch den Tränen nahe bin. Ich finde das einen derart bewegenden Moment deutscher Geschichte. Wirklich gewaltlos eine Diktatur zu beenden, das hat nie wieder ein Land geschafft. Ich finde das beeindruckend.

Und was du vorhin gesagt hast: dass du in dieses Land nicht mehr zurück kannst. Genau das wurde auch in einem Interview gesagt, bei einer Zeitzeugin, die ungefähr so alt ist wie du. Diese Erfahrung als Kind zu machen – sie sagte auch: „Meine Kindheit war schön. Und plötzlich war das alles weg.“ – das sind für mich alles so überraschende Aspekte gewesen. Es war sehr interessant und vielseitig zuzuhören, weil das eine ganz andere Perspektive ist und eröffnet. Das habe ich ganz viel gemacht bei dem Roman; Ich habe mich wirklich hingesetzt mit einem Diktiergerät und habe stundenlang zugehört, Fragen gestellt und dann alles abgehört und damit gearbeitet. Ich finde es interessant, dass sich tatsächlich Dinge, die ich gehört habe, auch hier in dem Interview wiederholen. Ich glaube, da gibt es wirklich viele Erfahrungen, die sehr universell sind und die viel zu wenig thematisiert wurden.

 

Teil 5

Frage an Jördis Triebel: Dieses Jahr ist der Mauerfall 35 Jahre her. Haben Sie persönliche Erinnerungen an die Zeit des Mauerfalls?

Jördis Triebel: Ganz konkret war ich zu Hause und wir haben es im Fernsehen gesehen. Dann, glaube ich, sind wir am nächsten Tag über die Warschauer Brücke in den Westen, und ich war einfach nur schockiert vom Westen. Für mich war der Westen wie so ein Intershop: Glitzer und riecht nach Erdbeerkaugummis. Ich habe gedacht das ist wie die Werbung, die ich immer angeguckt hab, die Westwerbung. Dann kam ich rüber und – Obdachlose, Armut, Drogen. Ich hab so eine Angst gehabt, ich fand das so schrecklich. Ich war wirklich wie unter Schock. Das war in Kreuzberg, und ich habe das immer noch mit Kreuzberg, es erinnert mich so sehr an den Schock von damals. Ich hätte wahrscheinlich nach Süddeutschland fahren müssen oder so, wo es auch eine Tradition gibt. Berlin ist schon einfach sehr krass.

Margarethe Adler: Ich finde das immer wieder so spannend und könnte da einfach stundenlang zuhören, weil wir natürlich aus ‚dem Westen‘ in Anführungsstrichen ganz anders auf das Thema gucken. Wir denken: „Es muss doch ein Fest gewesen sein! Die Mauer ist offen!“ Dass sowas dann einerseits ein Overload war an Impressionen und Sinneseindrücken und andererseits auch schockierend – ich finde es so spannend zu gucken, wie different das ist.

 

Teil 6

Frage an Jördis Triebel: Können Sie sich mit einer Figur im Roman besonders identifizieren? Oder erkennen Sie bestimmte Situationen oder Erlebnisse wieder?

Jördis Triebel: Am meisten kann ich mich mit Anke identifizieren, wenn sie über ihre Kindheit spricht und das, was sie verloren hat. Wir sind nicht ausgereist, aber trotzdem. All die Dinge, die sie erzählt, die es in ihrer Kindheit gab, die Gerüche. Das ist genau das, was mich auch immer sofort, wenn ich irgendwas rieche, in meine Kindheit zurück katapultiert. Oder wo ich sehr wehmütig werde, wenn ich was sehe oder mich daran erinnere. Ich verstehe auch, dass sie immer wieder zu dieser Wohnung zurück will. Ich habe sowas Ähnliches, dadurch, dass ich aus Marzahn komme. Wenn ich in Marzahn bin, fühle ich einfach so eine große Verbundenheit mit diesem Bezirk, mit den Hochhäusern, mit den Menschen dort, weil ich da unglaublich glücklich war als Kind. Das ist irgendwie ein Teil von mir und wird immer ein Teil von mir bleiben, glaube ich. Und ich verstehe, dass sie sagt, sie hat nirgendwo Wurzeln schlagen können. Dieses Gefühl kenne ich. Ich bin froh, dass ich meinen Beruf habe, dass ich da auch sowas wie ein Ventil habe, aber ich fühle mich auch ziemlich entwurzelt. Ich glaube der Mauerfall ist in einer Zeit passiert, in der ich, glaube ich, gerne mehr Sicherheit um mich herum gehabt hätte. Ich habe die Jahre nach dem Mauerfall wirklich als ganz, ganz große Verunsicherung – überall, wo ich hingekommen bin – gesehen. Und eine große Scham von DDR-Bürgern zu zeigen, woher sie kommen. Das habe ich selbst dann auch kopiert, dass es mir irgendwie unangenehm war zu sagen: „Ich komme aus dem Osten“, oder versucht habe, dass es mir nicht anzumerken ist. Also so viele Jahre damit verbracht, irgendwie zu täuschen, wer man ist.

Margarethe Adler: Das Thema hatten wir auch in den Interviews, und das war zum Beispiel etwas, was mich echt schockiert hat. Für mich spielt es überhaupt keine Rolle, woher die Menschen, mit denen ich zu tun habe, kommen. Aber dass tatsächlich auch gerade in Bewerbungen oder bei solchen Themen dann überlegt wird: „Was gebe ich Preis? Sage ich das?“. Das ist so schwierig, und da habe ich mir vorher gar keine Gedanken zu gemacht, dass man das denken und tun könnte. Genau über solche Dinge, gerade auch diese kleinen Schmerzpunkte, finde ich, ist es so wichtig, zu sprechen, und sich das zu erzählen und das voneinander zu wissen. Ich glaube, so funktioniert auch Annäherung.

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Marie Hemmen

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