Fünf Fragen an Sawsan Chebli und Miriam Stein
zum Erscheinen ihres Buches „LAUT. Warum Hate Speech echte Gewalt ist und wie wir sie stoppen können“ (Goldmann, 2023)
Frau Chebli, Sie sind in Berlin als zwölftes Kind einer geflüchteten palästinensischen Familie zur Welt gekommen. Später haben Sie Politikwissenschaften studiert, sind 2001 in die SPD eingetreten, waren – um einige Ihrer Stationen zu nennen – Grundsatzreferentin für interkulturelle Angelegenheiten in der Berliner Senatsverwaltung, stellvertretende Sprecherin im Auswärtigen Amt unter Frank-Walter Steinmeier, Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales und Bevollmächtigte des Landes Berlin beim Bund, Berliner Senatskanzlei. Heute sitzen Sie in Beiräten diverser internationaler Organisationen, u.a. dem „Centre for Feminist Foreign Policy“.
Wie haben Ihre Kindheit und die Biografie Ihrer Familie Sie politisiert? Gibt es Erinnerungen aus dieser Zeit, die Sie bis heute prägen?
Obwohl meine Eltern selbst nie politisch engagiert waren, war alles in meiner Kindheit und Jugend politisch begründet: Die Flucht meiner Eltern als Kinder aus Palästina und ihr Leben im libanesischen Flüchtlingslager, die zweite Flucht, dieses Mal nach Deutschland, die nicht enden wollenden Kettenduldungen und Schikanen auf deutschen Ämtern. Hinzu kamen Weiterbildungsverbote für meine älteren Geschwister, die Abschiebehaft meines Vaters ganz in der Nähe unserer Wohnung und die sich daran anschließende Abschiebung, unsere fünfzehn Jahre andauernde Staatenlosigkeit und bittere Armut: All das hat mich stark geprägt und politisiert. Es ist der Grund für mein Lautsein. Als Kind und junge Frau konnte ich das Unrecht, das uns widerfuhr, nirgendwo öffentlich anklagen. Ich hätte mir damals so sehr ein Medium wie Twitter oder Instagram gewünscht, einen Ort, wo ich auf das Schicksal meiner Eltern hätte aufmerksam machen können.
Frau Stein, Sie sind in Südkorea geboren und als Adoptivkind in Osnabrück großgeworden. Sie beide eint somit das Nicht-Weißsein in der hiesigen Gesellschaft. Was sind Ihre gemeinsamen Themen?
Sawsan Chebli und ich sind beide seit vielen Jahren als nicht-weiße, deutsche Frauen im Politik- und Medienbetrieb tätig. Bestimmte Erfahrungen mit Rassismus ähneln sich natürlich: Wir kennen beide das Gefühl, die einzige Person of Color im Raum zu sein, wir wurden beide immer wieder gefragt, wo wir denn nun „wirklich“ herkämen und immer wieder für unser „gutes Deutsch“ gelobt. Deswegen mussten wir nicht darüber diskutieren, warum es manchmal nervt, in der eigenen Heimatstadt auf Englisch angesprochen zu werden – auch wenn diese Ansprache nicht bewusst diskriminierend gemeint ist –, denn wir haben diese Situationen beide erlebt. Das hat die Zusammenarbeit natürlich sehr erleichtert.
Frau Chebli, Sie erzählen im Buch von einigen Ihrer Shitstorms, die begleitet sind von schockierend heftigen sexistischen, klassistischen, islam-feindlichen verbalen Übergriffen. Man erfährt also bei der Lektüre viel über die Abgründe unserer Gesellschaft. Welches dieser vielen digitalen Ungewitter hat Sie besonders getroffen? Und: Was gibt Ihnen die Kraft, danach weiterzumachen, wie halten Sie das aus?
Am längsten hat mich mein erster Shitstorm, in dem es um das Thema Sexismus ging, beschäftigt. Er hat mich vollkommen unvorbereitet getroffen. Der Hass, der mich überschwemmte, schien endlos. Es war alles dabei: Rassismus, Islamfeindlichkeit, Sexismus, Klassismus. Besonders hart traf mich aber der Shitstorm zu den Ausschreitungen in Chemnitz 2018. Damals war ich Staatssekretärin. Im Angesicht rechter Gewalt und einer aus meiner Sicht lethargischen Gesellschaft rief ich zu „radikaleren Antworten“ auf. Den Tweet musste ich löschen. Mir entglitt die Kontrolle über die Situation und den Hass, zum ersten Mal hatte ich wirklich Angst um mein Leben. Trotzdem ist Rückzug für mich keine Option. Ich werde weiter laut bleiben und meine Lautstärke für diejenigen nutzen, die nicht gehört werden. Rückhalt und Hoffnung geben mir dabei all die positiven Zuschriften, die mich über Direktnachrichten, per Mail oder über andere Kanäle erreichen. Ich fühle mich nicht vom Hass erdrückt, solange ich das Gefühl habe, nicht allein zu sein. Die Solidarität anderer hilft mir, nach jedem Shitstorm wieder aufzustehen. Ich weiß, dass es vielen Betroffenen so geht.
Cybergewalt nimmt nachweislich stetig zu und ist eine echte Gefahr für unsere Demokratie. Das Attentat auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, die Ermordung Walter Lübckes sind nur zwei furchtbare Beispiele dafür, wie aus digitaler Gewalt körperliche Gewalt wird. Was muss Ihrer Meinung nach passieren und welche Akteure sind gefragt, damit das Netz wieder zu einem Ort demokratischen Austauschs wird?
Hier sind alle Seiten gefragt, wir brauchen auf der juristischen, der politischen Seite und der Strafverfolgung mehr Haltung und mehr Handlung. Gesetze wie das Netzwerkdurchsuchungsgesetz, kurz NetzDG, das seit fünf Jahren existiert, und der neue Digital Services Act der EU können nur der Anfang sein. Wir haben leider gesehen, dass es weniger effektiv funktioniert, als wir uns das gewünscht haben, solange die Polizei und die Staatsanwaltschaften nicht für das Thema sensibilisiert und ausgebildet sind. Hier können wir ansetzen, ob durch Sondereinheiten, Schulungen und Sonderstaatsanwaltschaften. Hater müssen deutlicher spüren, dass ihr Hass nicht folgenlos bleibt. Gleichzeitig ist ein viel konsequenteres Vorgehen der Plattformen selbst gegen digitale Gewalt und Falschmeldung notwendig. Wenn sie dieser Verantwortung nicht nachkommen, müssen sie schneller und effektiver sanktioniert werden. Es kann nicht sein, dass einzelne Personen Entscheidungen treffen, die Folgen für Millionen – oder gar Milliarden Nutzer:innen haben. Und last but not least sind auch wir als Zivilgesellschaft gefragt: Ich wünsche mir eine viel aktivere Teilhabe. Zu viele Menschen schweigen bei Übergriffen im Netz. Sie haben noch nicht verstanden, dass alles, was im Netz passiert, auch sie etwas angeht.
Zu guter Letzt: Was können wir alle konkret tun, damit der Umgangston im Netz besser wird?
Online die Stimme erheben, laut sein, Zivilcourage und Solidarität mit den Betroffenen zeigen. Wir dürfen Hatern und Trollen die sozialen Medien nicht überlassen. Die meisten Menschen ahnen nicht, dass ihre Stimme – jede Stimme – von Bedeutung ist. Ist sie aber. Es geht um nicht weniger als um den Schutz und den Erhalt unserer Demokratie. Deshalb ist mein Appell an alle: Erhebt Eure Stimme - auf der Straße, in den Schulen, an den Universitäten, am Arbeitsplatz, im Kulturbetrieb, in den Parlamenten und vor allem im Netz.
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Susanne Grünbeck