Aktuelles | 29.07.2024 | Arkana

Fragen an Verena König, Autorin von „Trauma und Beziehungen“

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"Wir sind nicht dazu gemacht, etwas allein zu bewältigen. Wir brauchen einander, um glücklich, gesund und lebendig zu sein."

Verena König

Viele Menschen denken bei Trauma erstmal an einem schweren Unfall, einen Überfall oder ein ähnlich schlimmes Einzelereignis – wo fängt denn „Trauma“ an und welche Formen gibt es?

Es gibt viele verschiedene Formen von Trauma. Der Begriff umschreibt ein Spektrum. Traumatische Erfahrungen reichen von einzelnen überwältigenden Situationen – wie einem Unfall –  bis hin zu wiederkehrenden Hochstresssituationen oder Lebensumständen – wie etwa das Aufwachsen mit einem gewalttätigen Elternteil oder eine toxische Beziehung. Eine Erfahrung hat dann das Potenzial zu einem Trauma zu werden, wenn sie unsere Bewältigungsstrategien überfordert, sodass wir Gefühle von Ausweglosigkeit, Hilflosigkeit und Ohnmacht erleben oder auch, wenn sie unsere Verarbeitungsmöglichkeiten übersteigt, die Erfahrung also nicht „verdaut“ werden kann. Dann entwickeln sich Traumafolgesymptome, die wiederum ein großes Spektrum bilden. All diese Symptome wirken sich besonders in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen aus, die davon sehr belastet werden können.

 

Hat jeder, der sich immer wieder in gleichen oder ähnlichen Beziehungsdynamiken wiederfindet zwangsläufig ein Trauma? 

Von „immer“ und „zwangsläufig“ spricht man in Psychologie und Medizin nicht. Das Wort „typischerweise“ ist hingegen geläufig. So kann man sagen, dass es ein Hinweis auf eine unerkannte Traumafolge sein kann, wenn sich Menschen immer und immer wieder den gleichen Dynamiken ausgesetzt sehen. Wer Traumafolgen trägt, erlebt häufig, dass Methoden und Techniken, die anderen Menschen helfen, ihm nicht nützen. Denn Traumafolgen zu lindern, erfordert eine traumaspezifische Herangehensweise, damit Veränderung nachhaltig geschehen kann.

 

Worin kann sich ein frühes Bindungstrauma und emotionale Verletzungen im weiteren Lebensverlauf zeigen?

Besonders die frühen Traumata, die zwischen Kind und Bezugsperson stattfinden, wirken sich in unserem Bindungsverhalten und unserer Beziehungsgestaltung aus. Auch das Gefühl von Selbstwert und Identität ist hier häufig betroffen. Menschen suchen dann oft unbewusst immer noch das, was sie in ihrer Kindheit nicht bekommen haben, während sie sich gleichzeitig vor Verletzungen schützen wollen. So äußern sich diese Traumafolgen nicht selten in Bindungsangst, emotionaler Abhängigkeit, Mustern der Aufopferung oder einer Mischung aus vielen dieser Muster. Betroffene leiden sehr oft darunter, ihre eigenen Bedürfnisse und Beziehungswünsche im Leben nicht erfüllen zu können und erleben sich als unzulänglich, Beziehungsunfähig oder schlicht einsam und unglücklich.

 

Woran kann ich merken, dass ich in einer Situation nicht (nur) auf die aktuelle Situation reagiere, sondern dass hier alte Mechanismen aus meiner Vergangenheit aktiv werden? 

Häufig zeigt sich das zum einen in der Heftigkeit der Reaktion und zum anderen darin, dass man das Gefühl hat, sie nicht beeinflussen zu können. Etwas läuft „autonom“. Ein alter Schutzmechanismus ist aktiviert, der nicht dem erwachsenen Bewusstsein entspringt, sondern einem unbewussten Impuls folgt, der aus der Vergangenheit stammt.

 

Kann man aus solchen tief sitzenden Mustern alleine wieder rausfinden? 

Ich finde diese Frage immer wieder faszinierend. Denn der Wunsch oder Anspruch, etwas alleine zu schaffen, passt nicht zu unserer bindungsorientierten Natur. Wir sind nicht dazu gemacht, etwas allein zu bewältigen. Wir brauchen einander, um glücklich, gesund und lebendig zu sein und auch, um Herausforderungen zu meistern. Diese Tatsache macht uns stark und zugleich sehr verletzlich. 

 

Du sagst, die Heilkraft für frühe Wunden liegt in Beziehungen. Man hört jedoch oft, dass man sich erst selbst lieben können müsse, bevor man andere lieben kann. Ist das ein Irrglaube? 

Es ist die falsche Reihenfolge. Ein Baby kommt nicht auf die Welt und lieb sich selbst, sondern es wächst und gedeiht in der bestenfalls sicheren Bindung zu seinen Bezugspersonen. Aus dieser Bindung entwickelt sich eine Blaupause für jede weitere Beziehung, auch für die Beziehung zu uns selbst. Das bedeutet, dass wir zunächst begreifen müssen, was wir in unseren frühen Bindungen über uns selbst gelernt haben, denn das bestimmt unser Selbstbild. Dass wir bedingungslos liebenswert sind, werden wir im Kopf begreifen können, aber spüren können wir es nur, wenn wir die Erfahrung machen, wirklich gesehen, angenommen und sicher gebunden zu sein. Auch hier gilt: Wir brauchen einander, auch wenn das nicht jeder so gerne hört, weil scheinbar die eigene Autonomie bedroht. Doch Autonomie entsteht entwicklungspsychologisch als Konsequenz einer sicheren Bindung. Ohne das eine gibt es das andere nicht.

 

Du nimmst in deinem Buch und in deinem Podcast auch immer wieder auf die Polyvagaltheorie Bezug, die sich mit dem Zustand des Nervensystems und den daraus resultierenden Auswirkungen beschäftigt.  Wieso ist das Nervensystem so wichtig für unser Beziehungserleben? 

Der Zustand unseres Nervensystems bestimmt maßgeblich, wie wir die Welt, uns selbst und andere wahrnehmen und auch, wie wir Situationen bewerten. Menschen mit Traumahintergrund leben die meiste Zeit in einem mehr oder weniger offensichtlich dysregulierten Nervensystem. Sind wir beispielsweise in einem Zustand der Angst, ist unser Nervensystem auf Schutz gepolt und nicht offen dafür, sich entspannt zu verbinden oder Intimität und Nähe zu leben. So beeinflusst unser Nervensystem unser Beziehungserleben und unser Verhalten. Deswegen ist es elementar, Zustände des Nervensystems erkennen und nach und nach regulieren zu können. Dann gelingt es uns, Beziehungen so zu gestalten, wie es uns hier und heute entspricht und nicht, wie es uns die Vergangenheit gelehrt hat.

 

 

 

(c) Arkana Verlag. Abdruck nur nach Absprache mit dem Verlag

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