Fragen an Nathalie Stüben und Falk Kiefer, Autoren von „Frauen und Alkohol“
"Die Konsequenzen des gleichberechtigten Trinkens sind nicht gleich. Alkoholisierte Männer werden zum Beispiel eher Täter, alkoholisierte Frauen eher Opfer von Gewalt. Also Männer schaden im Zweifelsfall eher anderen, wenn sie betrunken sind, und Frauen schaden sich häufig selbst, was eine fürchterliche Alltagsrealität ist."
Falk Kiefer
Nathalie, wie kam es zu diesem Buch?
Nathalie: Immer wieder wurde ich in Interviews gefragt: Warum trinken Frauen? Warum bekommen sie ein Alkoholproblem? Und ich hatte keine griffige Antwort. Ich wusste, dass es prozentual immer weniger Unterschiede im Vergleich zu Männern gibt und dass in der Gruppe der 18-29Jährigen Frauen mittlerweile sogar häufiger riskant trinken als Männer. Aber warum immer mehr Frauen trinken und im Alkoholproblem landen, das konnte ich nicht so einfach beantworten. Die Erklärungen, die mir immer wieder begegneten – Gewalterfahrungen, Vernachlässigung oder sexueller Missbrauch in der Kindheit – passten nicht zu dem, was ich selbst erlebt habe oder was ich bei den Teilnehmerinnen meiner Onlineprogramme beobachtete. Natürlich kommt das da auch vor, im Verhältnis auch häufiger als in der Gesamtbevölkerung. Traumatische Erfahrungen in der Kindheit sind ohne Zweifel einer der Risikofaktoren für psychische Störungen wie Alkoholprobleme. Aber er scheint mir nicht auszureichen, um den steigenden Konsum „der Frauen“ zu erklären. Der Einstieg in den Alkoholkonsum läuft meinen Beobachtungen zufolge auch bei Frauen sehr oft über das alltägliche Bedürfnis, dazuzugehören, Teil einer Gruppe zu sein, cool, erwachsen oder rebellisch zu sein. Die kulturellen und politischen Rahmenbedingungen, mit denen wir groß werden, spielen bei der Entwicklung von Alkoholproblemen eine immense Rolle. Meine spontane Antwort in diesen Interviews war deshalb oft: Ich glaube, so groß ist der Unterschied zu dem, wie Männer hineinrutschen, gar nicht.
Und gleichzeitig liegt es ja auf der Hand, dass es Unterschiede gibt, schon rein medizinisch betrachtet, oder auch, was unsere Sozialisierung angeht. Diese Komplexität fasziniert mich am Thema Alkohol. Es ist eine Droge, die sich durch sämtliche Bereiche unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens zieht – Wirtschaft, Politik, Psychologie, Medizin, Biologie, Geschichte, Rechtswissenschaft oder Soziologie, um mal nur einige zu nennen – und alle davon spielen in unseren Konsum mit rein. Darunter natürlich auch die Themenbereiche Geschlecht und Gender. Wobei es hier eine starke Wechselwirkung gibt: Meine Realität als Frau formt, wie ich trinke und wie ich trinke, formt wiederum meine Realität als Frau.
Falk, was war dein Antrieb?
Falk: Mein Zugang zum Thema Frauen und Alkohol ist natürlich dadurch getrieben, dass ich seit 25 Jahren Menschen mit Alkoholproblemen medizinisch-psychotherapeutisch behandle – und ein Drittel von ihnen Frauen sind. Menschen kommen nur bei oberflächlicher Betrachtung in Behandlung, „um abstinent zu werden“. Sie kommen in Behandlung, um ihre persönlichen Ziele zu erreichen und weil sie bemerkt haben, dass dies nur ohne Alkohol geht. Zum Beispiel eine erfüllte Beziehung zu führen, den Kindern eine verlässliche und fürsorgliche Mutter zu sein, gesund und sportlich zu sein und auch so auszusehen, beruflich erfolgreich zu sein. Es liegt also auf der Hand, dass in der Therapie die individuelle Situation von zentraler Bedeutung ist und damit auch, ob die Person in unserer Gesellschaft eine eher weibliche oder eher männliche Perspektive einnimmt. Geschlecht, Alter und kulturelle Identität sind hier vielleicht das gröbste Raster, in der Praxis aber ein sehr stabiles und prägendes. In unserem Buch wollen wir aber auch die Zwischenräume beleuchten.
Ich würde auch sagen, dass es beim Hineinrutschen in den Alltagskonsum und bei den Problemen, die daraus entstehen, inzwischen gar nicht mehr so viele Unterschiede gibt. Aber die Konsequenzen des gleichberechtigten Trinkens sind nicht gleich. Alkoholisierte Männer werden zum Beispiel eher Täter, alkoholisierte Frauen eher Opfer von Gewalt. Also Männer schaden im Zweifelsfall eher anderen, wenn sie betrunken sind, und Frauen schaden sich häufig selbst, was eine fürchterliche Alltagsrealität ist. Das Risiko für Frauen, betrunken zu sein, ist viel höher, die Konsequenzen sind oft viel schlimmer.
Was ist euch wichtig, durch das Buch vermitteln zu können?
Nathalie: Alkohol hat unabhängig von einer Suchtentwicklung sehr viele weitere negative Auswirkungen auf unsere psychische, körperliche und soziale Gesundheit. Zudem durchlaufen Alkoholprobleme verschiedene Stadien und beginnen oft unmerklich. Viele Frauen erkennen leider noch viel zu selten – oder viel zu spät –, dass wiederkehrende Probleme, dass ein paar dieser Mauern, gegen die sie immer wieder rennen, durch ihren Alkoholkonsum entstehen. Und natürlich kann Konsum immer auch in Sucht münden.
Falk: Eine spannende Erkenntnis ist, wie wichtig Jugend und Adoleszenz für den weiteren Lebensweg sind, weil wir in dieser Lebenszeit grundlegende Vorlieben entwickeln, die uns lebenslang wichtig bleiben. Was interessiert mich in meinem Leben? Was motiviert mich? Mit welchen Zielen identifiziere ich mich? Es ist faszinierend, wie stabil diese Neuausrichtung in der Adoleszenz den weiteren Lebensweg prägt. Und deswegen ist diese Phase auch besonders gefährlich, wenn es um Sucht geht. Suchtstoffe können sich in dieser Lebensphase fürchterlich langfristig verankern, weil wir in dieser Zeit eben prägende Erfahrungen machen und unser Gehirn auf die individuelle Realität einnorden, in der wir dann später als Erwachsene leben. Eine andere Erkenntnis ist, dass Suchtmittel ein System in unserem Gehirn angreifen, das evolutionär uralt ist: die emotionale Steuerung unseres Verhaltens, die Motivation. Die dritte fantastische Erkenntnis, die daraus folgt, ist dann aber, dass Menschen trotzdem nicht dazu gezwungen sind, ihren subjektiven Motiven und Impulsen zu folgen. Menschen haben die einmalige Fähigkeit, bewusst und selbstverantwortlich Entscheidungen zu treffen. Sie können sich über Impulse, die auf kurzfristige Belohnungen anspringen, hinwegsetzen, bewusst und achtsam sein.
Was passiert, wenn jemand aufhört, zu trinken?
Nathalie: Das ist etwas, das auch mich total fasziniert. Es entstehen zwar stabile Muster, aber wir sind in der Lage, diese Muster umzuschreiben, umzustricken, neu zu lernen und tatsächlich ein ganzes Leben und auch Empfinden neu auszurichten. Es ist wunderschön zu sehen, wie Menschen anfangen, aufzublühen und schönere, tiefere Beziehungen zu führen – zu sich selbst und zu anderen. Und wie schnell viele sich weiterentwickeln, wie schnell ihr Leben einen regelrechten Push bekommt, wenn sie aufhören zu trinken. Wobei mich das schlussendlich nicht wundert. Bei mir ging es ohne Alkohol ja auch rasant bergauf. Ich bekomme auch immer wieder Mails von Frauen, die ‚moderat‘ getrunken haben, nun nüchtern leben, und sagen: unglaublich, wie fit ich mich fühle, wie klar, wie gelassen und wie gesund. Die plötzlich keine Probleme mehr mit dem Magen haben, sich leichter fühlen, frischer und einfach besser.
Wie seid ihr vorgegangen, um diese Erkenntnisse zu vermitteln?
Nathalie: Und das Wissen sowohl für den Verstand als auch fürs Herz aufzubereiten, haben wir uns dazu entschlossen, fünf Frauencharaktere aus fünf Generationen zu erschaffen, die mit ihren Geschichten durch unser Buch führen. Sie illustrieren verschiedene Stadien und Ausprägungen von Alkoholproblemen. Diese Figuren sind fiktiv, aber in ihnen verdichten sich viele Jahrzehnte an Erfahrung. Wir hatten den Eindruck, dass Fiktion die Realität auf diese Weise noch besser auf den Punkt bringen kann als die Nacherzählung der Realität selbst.
Beim Schreiben haben wir uns darum bemüht, möglichst viele Lebensrealitäten abzubilden, aber alles abdecken können wir natürlich nicht – zumal wir aufgrund unserer Herkunft blinde Flecken haben, die sich auch durch Recherche nie ganz beseitigen lassen. Hinzu kommt, dass das Konzept ‚Generation‘ ein Hilfskonstrukt ist. Es ermöglicht, Menschen danach einzuteilen, in welcher Ära sie geboren und aufgewachsen sind, welche weltgeschichtlichen Ereignisse, technologischen Fortschritte, kulturelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Hintergründe sie mitgeprägt haben. Aber Generationen lassen sich nie sauber voneinander abgrenzen.
Welche Bedeutung hat das Alter beim Alkoholkonsum?
Falk: Es ist wichtig zu verstehen, dass jede Lebensphase ihre eigenen Herausforderungen hat. Alkohol übernimmt in unterschiedlichen Lebensabschnitten unterschiedliche Funktionen und führt zu verschiedenen Folgen. Deshalb fand ich die Idee, das Buch an den unterschiedlichen Lebenswelten von Frauen der Generationen X, Y, Z, den Baby Boomern und Älteren zu orientieren, fantastisch. Ein „one fits all” gibt es weder für die Ursachen von Alkoholproblemen noch für Wege heraus.
Vielleicht hilft das Buch daher auch beim Verständnis, dass Alkohol unseren Alltag über Generationen hinweg prägt. Wir wollen das Thema da platzieren, wo es hingehört: in die Mitte der Gesellschaft, damit wir künftig mit den Problemen, die Alkohol verursacht, vorurteilsfreier umgehen. Das Buch soll Menschen, besonders Frauen, bereichern und dazu anregen, dieses omnipräsente Thema mal aus neuen Blickwinkeln zu betrachten.
(c) Kailash Verlag. Abdruck nur nach Absprache mit dem Verlag
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Mi Yong Neumann