Fragen an Dr. Julia Tanck zu ihrem Buch „Unfiltered. Social Media und unser Körperbild“
"In unserer Diätkultur wird der schlanke Körper positiver bewertet und die Beschämung von dicken Körpern, also Bodyshaming, liegt an der Tagesordnung. Diese Dynamik wirkt durch Medien und unser soziales Umfeld permanent auf uns ein. Sie ist tief verankert und stellt ein strukturelles und nicht etwa ein individuelles Problem dar."
Dr. Julia Tanck
Körperunzufriedenheit an sich ist kein neues Thema – gerade Frauen sind gesellschaftlich schon immer den unterschiedlichsten Einflüssen und Anforderungen ausgesetzt. Welche zusätzlichen Herausforderungen bringt Social Media?
Durch das Social Media Zeitalter sind wir schon sehr früh mit vermeintlichen Idealkörpern, die oft durch Filter optimiert und verändert wurden, konfrontiert. Früher haben wir vielleicht ein Plakat oder ein Zeitschriftencover gesehen, demgegenüber sind wir auf Social Media ständig einer Masse an Bildern ausgesetzt. Die Zielgruppe wird zudem immer jünger und der Fokus auf Vergleich wird stärker, denn Creator:innen wirken viel nahbarbarer als Models in Zeitschriften oder Schauspielerinnen im Fernsehen. Wir identifizieren uns mit Influencerinnen und Influencern stärker als mit Personen im Fernsehen, denn die Creator:innen sprechen uns als Konsument:innen direkt an, wodurch eine gefühlte Nähe entsteht.
Wie kann man sich selbst oder auch Heranwachsende davor schützen?
Es ist schwierig, sich komplett zu schützen, denn soziale Medien sind Teil der Gesellschaft. Neben dem Vorteil der breiten Informationsgewinnung über die Vielfalt an Inhalten finden wir auf Social Media auch potenziell schädliche Messages. Die sozialen Medien deshalb komplett zu meiden ist jedoch auch nicht zeitgemäß. Deswegen sollten wir lieber schauen, wie wir unseren eigenen Konsum dahingehend verändern, dass er sich für uns persönlich positiv auswirkt. Und das funktioniert über die Vermittlung von Medienkompetenz. Vor allem bei Jugendlichen, deren Körper sich noch verändern, sollte präventiv angesetzt werden. Das belegen auch Studien, wonach die Schaffung einer sogenannten „kognitiven Dissonanz“ dabei hilft, potentielle Schäden von Social Media zu verhindern. Die „Kognitive Dissonanz“ entsteht dann, wenn wir verinnerlichen, dass nicht alles der Realität entspricht, was wir auf Social Media sehen.
Das gilt aber auch für Erwachsene: Wenn uns bewusst wird, dass die allermeisten Bilder unrealistisch sind und auch die gesellschaftlich determinierten Körperideale für ganz viele Menschen unerreichbar sind, kann uns das vor einem dysfunktionalen Vergleich schützen. Dazu kann es auch hilfreich sein, ins ‚echte‘ Leben zu gehen und ungefilterte, realistische Körper zu sehen. Wir werden mit großer Sicherheit feststellen, dass der Durchschnittskörper alles andere als „perfekt“ ist – und das ist gut so!
Was begünstigt neben Social Media die Entstehung von einem negativen Körperbild?
Bei der Entstehung eines negativen Körperbildes unterscheiden wir zwischen gesellschaftlichen, familiären und persönlichen Faktoren. Zu den gesellschaftlichen Faktoren zählt die Diätkultur, in der wir leben. In unserer Diätkultur wird der schlanke Körper positiver bewertet und die Beschämung von dicken Körpern, also Bodyshaming, liegt an der Tagesordnung. Diese Dynamik wirkt durch Medien und unser soziales Umfeld permanent auf uns ein. Sie ist tief verankert und stellt ein strukturelles und nicht etwa ein individuelles Problem dar. Gewichtsdiskriminierung findet in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft statt: in der zwischenmenschlichen Interaktion, auf dem Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen, in der Partnerschaft oder auch in traditionellen und sozialen Medien.
Aber auch familiäre Einflüsse prägen unser Körperbild nachweislich: Wenn Eltern beispielsweise ein negatives Körperbild haben, kann sich das auf die Kinder übertragen. Die Eltern äußern vielleicht häufiger negative körperbezogene Kommentare über sich und andere Körper, sie fungieren als Modell für ihre Kinder, die diese Muster nachahmen. Gerade Mädchen identifizieren sich mit ihrer Mutter. Wenn die Mutter unzufrieden mit ihrem Körper ist, ständig Diät macht und es verbotene Lebensmittel gibt, dann besteht das Risiko, dass dieses negative Körperbild transgenerational weitergegeben wird.
Wie kann man, wenn man selbst ein schwieriges Verhältnis zu seinem Körper hat, versuchen, möglichst wenig davon weiterzugeben?
Zu dieser Frage ist zunächst wichtig zu wissen, dass es da prinzipiell zwei Pfade gibt: einerseits die Beziehung von uns selbst zu unserem Körper und andererseits die Art und Weise, wie wir mit unserem Kind in Bezug auf den Körper umgehen. Wir sollten zunächst damit anfangen, unser eigenes Verhältnis zum Körper zu verbessen. Ein gesundes Verhältnis zum eigenen Körper wirkt sich nachweislich auf das Kind aus. Folgende Fragen können helfen: Wo behandele ich meinen Körper nicht gut? Wo rede ich schlecht über meinen Körper? Wie häufig rede ich schlecht über Körper dritter? Wie gehe ich vor meinem Kind mit Essen um? Verbiete ich mir Dinge oder bewerte ich Nahrungsmittel nach ‚gut‘ und ‚schlecht‘? Viele essgestörte Verhaltensweisen sind gesellschaftlich weit verbreitet und akzeptiert, wie z.B. Mahlzeiten durch Shakes zu ersetzen. Für Kinder ist es jedoch immens wichtig, ein gesundes Essverhalten vorgelebt zu bekommen. Ein Blick in meine Praxis liefert ein identisches Bild: Ich würde sagen, dass um die 90% meiner Patientinnen mir berichten, dass schon ihre Mütter essgestörte Verhaltensweisen zeigten. Sie kennen es gar nicht anders, als dass Essen ständig Thema war.
Und was ist der zweite Ansatz?
Das ist der Umgang mit dem Kind: Wie gehe ich mit meinem Kind in Bezug auf seinen Körper um? Was kommentiere ich am Körper meines Kindes? Kommentiere ich den Körper überhaupt? Kommentiere ich den Körper Dritter? Körperkommentare über andere prägen auch die Wahrnehmung des Kindes. Wir sollten also bewusst anfangen, andere Dinge zu kommentieren, die nichts mit dem Aussehen zu tun haben – sowohl beim Kind als auch bei anderen Personen. Ich kann mein Kind für Persönlichkeitseigenschaften loben und wertschätzen, so etwas wie „Heute warst du total mutig“ oder „Ich mag deinen Humor“ und nicht dafür, wie der Körper aussieht.
Ein weiteres Riesenthema ist das Essverhalten von Kindern: es gibt zahlreiche Debatten darüber, was gesund ist und was nicht. Die allermeisten Eltern wollen, dass ihr Kind ‚gut‘ und ‚gesund‘ isst. Um dem Kind ein freies, gesundes, intuitives Essverhalten zu ermöglichen, sollten grundsätzlich keine Essensverbote aufgestellt werden. Das Ziel ist die Schaffung einer sogenannten Essensneutralität. Wenn das Kind essen darf, was es will wann es will, dann wird es langfristig zu einem intuitiven Essverhalten finden und lernen, auf seine körperlichen Bedürfnisse zu hören. Denn unser Körper weiß am besten darüber Bescheid, was wir gerade brauchen und was nicht – wenn wir denn lernen, seine Signale zu deuten.
Wie kann man sich vor Gewichtsdiskriminierung und Bodyshaming schützen?
Gewichtsdiskriminierung und Bodyshaming sind ein gesellschaftliches Problem ist und nicht die Schuld der Menschen, die Bodyshaming erleben. Viele Betroffene von Bodyshaming geben sich jedoch selbst die Schuld, daran dass sie beschämt werden und nicht dem schlanken Idealkörper entsprechen. Das Problem liegt jedoch unter anderem in der gewichtszentrierten Denkweise der Gesellschaft: Zuschreibungen von Charaktereigenschaften aufgrund von Gewicht sind weit verbreitet. Jemand der schlank ist, gilt als diszipliniert, erfolgreich, intelligent, gesund. Dicken Menschen hingegen werden fehlende Disziplin, Dummheit und ungesunde Lebensgewohnheiten zugeschrieben. Mehrgewichtige Personen sollten versuchen, sich von diesen absurden Zuschreibungen abzugrenzen, was alles andere als leicht ist. Es ist unsere Aufgabe als Gesellschaft, diese Form der Diskriminierung sichtbar zu machen und zu verändern. Dafür kann sich jede und jeder im Alltag stark machen, ein Bewusstsein für diese Vorurteile zu schaffen und damit ein Umdenken anzustoßen.
Wie kann man das eigene Verhältnis zu seinem Körper verbessern?
Mein Buch lesen...(lacht). Aber wirklich: mein Buch kann ein erster Anstoß sein, sich mit dem eigenen Körper auseinander zu setzen und Ansatzpunkte zu finden, die Beziehung zu verbessern. Ein positives Körperbild ist nicht automatisch das Gegenteil von einem Negativen. Wir können das positive Körperbild steigern, z.B. indem wir Wertschätzung gegenüber unserem Körper empfinden und uns bewusst machen, was der Körper uns alles ermöglicht. Wenn wir unser Selbstbild so sehr am optischen Ideal festmachen, ist das zum Scheitern verurteilt, weil der Körper sich über die Lebensspanne ständig verändert. Wenn ich meinen Körper auf Aussehen und Gewicht reduziere, übersehe ich, wie viele Fähigkeiten er hat, die nichts mit dem Aussehen zu tun haben. Unser Körper arbeitet rund um die Uhr für uns. Frage dich: Was leistet mein Körper den ganzen Tag für mich? Für welche Dinge bin ich ihm vielleicht dankbar? Welche Aktivitäten ermöglicht mir mein Körper?
Ein anderer Ansatz bezieht sich auf unsere körperbezogene Aufmerksamkeit: Frauen achten viel mehr auf ihre subjektiven Problembereiche, als es z.B. Männer tun. Bei Männern finden wir eine selbstwertdienlichere Betrachtungsweise, wenn sie sich im Spiegel anschauen, d.h. sie schauen auf die Bereiche ihres Körpers, die sie mögen. Wir alle können lernen, mehr auf die Bereiche zu gucken, die wir an uns mögen, wenn wir das beim nächsten Blick in den Spiegel bewusst trainieren.
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Mi Yong Neumann