Aktuelles | 21.07.2021 | Mosaik Verlag

EVERY BODY: Julia Rothman und Shaina Feinberg im Interview

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Die New York Times-Kolumnistinnen Julia Rothman und Shaina Feinberg über EVERY BODY, ein Panoptikum der Leidenschaft: Vom Masturbationsweltmeister zur selbstbewussten Muslima bis hin zur schüchternen Sexspielzeugverkäuferin – Menschen aller Generationen und Bildungsschichten offenbaren ihre intimsten Erfahrungen mit Sexualität.

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Cover

Was ist das Besondere an eurem Buch? Könnt ihr kurz beschreiben, worum es geht?

Shaina & Julia: Dieses Buch ist eine Sammlung Hunderter wahrer Geschichten, in denen Menschen ihre Erlebnisse und Erfahrungen mit ihrem Körper und ihrer Sexualität geschildert haben – von ihrem ersten Mal bis zur Menopause und allem, was es dazwischen gibt. Wir haben die anonymen Beiträge über Befragungen auf offener Straße und über eine eigens eingerichtete Webseite zusammengetragen. Außerdem enthält es Arbeiten mehrerer Dutzend Illustratoren, Maler und Comiczeichner aus der ganzen Welt sowie Essays und Interviews mit Experten unterschiedlicher Fachrichtungen, beispielsweise einer Therapeutin, einer Abtreibungsbegleiterin und einem kriminaltechnischen Sexualkundler.

 

Wer sollte dieses Buch lesen? Für welche Altersgruppe ist es geeignet?

Shaina & Julia: In diesem Buch werden eine Menge Themen angesprochen, die eher für Erwachsene gedacht sind, insofern würden wir sagen, ab 18 Jahren. Die Beiträge stammen von Menschen aller Altersgruppen und Erfahrungsstufen. Eltern können dieses Buch aber auch gemeinsam mit ihren Kindern im Teenageralter lesen, um sich dem Thema Sex zu nähern.

 

Welche drei Storys sind euch speziell im Gedächtnis geblieben und warum?

Shaina & Julia: Besonders hat uns die Geschichte des älteren Herrn begeistert, der sich mit Ende sechzig als schwul geoutet hat. Die Einzelheiten sind grandios: Er war auf einem Kirchenausflug und teilte sich mit einem Freund ein Hotelzimmer. Sowie sie die Tür hinter sich schlossen, fielen sie einander in die Arme, und die Unterwäsche flog durchs Zimmer. Was für eine wunderbare Geschichte, die klar zeigt, dass sich jeder Mensch auf seiner eigenen sexuellen Reise befindet und es keinerlei zeitlichen Rahmen gibt, wann etwas passieren muss.
In einer anderen, sehr kurzen Geschichte schildert jemand, wie er während eines Blowjobs das Gefühl hatte, eine Farbe zu sehen, wie sie ihm noch nie vorher begegnet war.
Auch Elna Baker hat uns mit ihrem Essay "Die schmutzige Erde Jesu" begeistert, in der sie schildert, wie sie, die als Mormonin aufgewachsen ist, das erste Mal einen Penis berührt hat. Es ist ein sehr witziger Essay, der eine ganze Reihe an Themen abdeckt: Religion, Schuld, erste sexuelle Erfahrungen und Experimente.

 

Wie ist die bisherige Reaktion auf das Buch, von den Medien einmal abgesehen?

Shaina & Julia:
Es ist ein schönes Gefühl, von Leserinnen und Lesern zu hören, dass die gesammelten Geschichten sie berührt haben. Viele haben sich gemeldet, um uns wissen zu lassen, dass sie sich dadurch gesehen fühlen oder den Eindruck haben, als wären sie nicht länger allein mit ihrem Problem.

 

Nach welchen Kriterien habt ihr die Grafiken ausgewählt?

Shaina & Julia
: Wir haben uns für Illustrationen entschieden, in denen die Künstler/innen eine persönliche Geschichte über Sex oder Körperlichkeit erzählen. Unser Ziel war Diversität, sowohl in der Stilrichtung der Werke als auch in der Biografie der Künstler/innen, die aus aller Welt stammen und eine ganze Bandbreite an ethnischer Herkunft, Religion und sexueller Orientierung darstellen. Bei den Werken kamen alle möglichen Techniken und Utensilien zum Einsatz - von Collagenpapier über Tinte bis hin zu Lackfarbe. Einige Künstler/innen haben sich bereits einen Namen gemacht und werden regelmäßig in Magazinen wie dem New Yorker abgedruckt, andere hingegen stehen erst am Anfang ihrer Laufbahn.

 

Wie haben die Künstler/innen auf eure Buchidee reagiert?

Shaina & Julia: Sie waren begeistert von der Idee, in dem Buch vertreten zu sein. Schon davor hatten sie mit den Themen Sexualität und Körperlichkeit gearbeitet, daher war es für sie eine Gelegenheit, sich innerhalb eines anderen Projekts zu präsentieren.

 

Gibt es Unterschiede in den Geschichten von Männern, Frauen und nicht-binären Menschen und wenn ja, welche?

Shaina & Julia: Nein, uns sind keine aufgefallen. Die Erfahrungen, die die Leute gemacht haben, waren alle völlig unterschiedlich, allerdings gibt es eine Gemeinsamkeit: die menschlichen Gefühle – Scham, Verlegenheit, Einsamkeit, aber auch Freude, Lust, Selbstvertrauen und Liebe.

 

Warum hat Religion – egal, welche – eurer Meinung nach so einen großen Einfluss auf die Sexualität? Und wie spiegelt sich das in den Geschichten in eurem Buch wider?

Shaina & Julia:
Religion ist etwas, was viele Leute von der Wiege an begleitet und womit sie wegen der religiösen Überzeugung in ihrem Elternhaus oder der Gemeinschaft, in der sie aufwachsen, auf bestimmte Denkweisen konditioniert werden. All die Erlebnisse und Erfahrungen in der frühen Kindheit können einen enormen Einfluss auf unser Denken und Fühlen als Erwachsene haben. Üblicherweise herrschen in der Religion sehr klare, ausgeprägte Ansichten über Sex und Sexualität vor, daher sind die Menschen von tief verwurzelten Überzeugungen geprägt, wenn sie zum Jugendlichen heranreifen und erste sexuelle Erfahrungen machen. Viele wehren sich vehement dagegen und lösen sich davon, andere wiederum halten voller Überzeugung daran fest. In unserem Buch kommen Menschen zu Wort, die ihren ursprünglichen religiösen Ansätzen den Rücken gekehrt und sich auf ihre eigene sexuelle Reise begeben haben, aber auch solche, die dies nicht getan haben, sondern religiös geblieben sind und zugelassen haben, dass die Religion ihr Sexualleben bestimmt. Manche haben sich bewusst ihre Unschuld bis zur Eheschließung bewahrt und sind jahrzehntelang verheiratet geblieben. In diesem Buch ist die gesamte Bandbreite an Erfahrungen abgebildet.


Welchen Einfluss können die ethnische Herkunft und Zugehörigkeit auf die Sexualität zwischen Menschen haben? Welchen Eindruck habt ihr gewonnen?

Shaina & Julia:
Über die ethnische Zugehörigkeit gibt es viele vorgefertigte Meinungen, die allmählich jedoch aufzuweichen scheinen. Natürlich wäre es schöner, wenn dieser Prozess schneller vonstatten ginge. Wir haben festgestellt, dass einige Menschen tatsächlich sehr stark von diesen Vorstellungen geprägt sind, andere hingegen haben irgendwann gelernt, sich davon zu lösen.

 

Gibt es einen Unterschied zwischen der Liebe in der Großstadt und Liebe in Kleinstädten bzw. auf dem Land?

Shaina & Julia: Im Großen und Ganzen scheint sich das Motto „Liebe ist Liebe“ vorzuherrschen. In einigen der Geschichten zeigt sich jedoch, dass Stadtmenschen ein breiteres Spektrum an Möglichkeiten und mehr Anonymität zur Verfügung steht. Geht man in einer Kleinstadt auf eine Sex-Party, ist die Wahrscheinlichkeit, bekannte Gesichter zu sehen, logischerweise größer.

 

Aktuell bekommt das Thema Intersexualität eine Menge Aufmerksamkeit. Wie deckt euer Buch diese spezielle Form der menschlichen Sexualität ab?

Shaina & Julia: Wir haben einen Beitrag des Filmemachers River Gallo und seiner/ihrer Erkenntnis, intersexuell zu sein, in dieses Buch aufgenommen. In diesem Essay beschreibt River, wie Eltern und Ärzte ihm/ihr diese Tatsache verschwiegen und alle möglichen Entscheidungen über ihn/sie getroffen haben. Kaum stand die Diagnose fest, konnte River Gallo sie akzeptieren und fand eine Gemeinschaft und Vorbilder, die ebenfalls intersexuell waren.


Welchen Einfluss hat die moderne Dating-Kultur, sprich Tinder & Co., auf die Geschichten im Buch?

Shaina & Julia: Offenbar ist die Partnersuche mittels einer App inzwischen ganz normal. Apps bieten einen direkteren Weg, jemanden kennenzulernen, allerdings sind damit auch diverse Schwierigkeiten verbunden, wie beispielsweise die Tatsache, dass man in einem Profil eine Idealversion von sich selbst verkauft und sich im Grunde mit wildfremden Menschen zu einem Date trifft. 


Wie wichtig sind Bücher – oder andere Bildungsmedien – wie eures, um vor allem junge Menschen vor dem Gefühl zu bewahren, mit ihrer Sexualität allein oder ein Exot zu sein?

Julia: In der Pubertät hat meine Mutter mir einen Stapel Bücher in die Hand gedrückt, die mir sehr geholfen haben. Unser Körper, unser Leben habe ich mir beispielsweise oft angesehen. Dabei habe ich nicht nur eine Menge über meine Anatomie gelernt, sondern ich mochte auch die kurzen Geschichten all dieser unterschiedlichen Menschen. Die Erkenntnis, dass andere Teenager ähnliche Ängste und Probleme haben wie ich, hat mir enorm geholfen. Ich finde, Bücher sind ein perfekter Einstieg für eher heikle Gespräche.

 

Falls diese Frage nicht zu persönlich ist: Hat sich durch die vielen Geschichten, die ihr für dieses Buch gehört und gelesen habt, etwas in eurem eigenen Leben verändert?

Shaina: Ich leide bereits mein ganzes Leben unter einer körperdysmorphen Störung. Die Lektüre der Beiträge zu diesem Buch hat mir geholfen, meinen Körper als solchen zu erkennen. Es ist fast, als hätte ich erst jetzt begriffen, dass in all diesen Körpern auch nur Menschen stecken. Seitdem kann ich meinen eigenen besser akzeptieren und mich mehr über ihn freuen.
Julia: Dem kann ich nur zustimmen. Mir hat die Arbeit an diesem Buch ebenfalls geholfen, mich in meiner Haut wohler zu fühlen und zu begreifen, dass wir die Menschen alle gleich und dabei doch einzigartig sind. Und ich habe festgestellt, welche Freude es mir bereitet, mit anderen Menschen zu sprechen. Es macht riesigen Spaß, irgendwo zu sitzen und sich seine oder ihre Geschichte anzuhören, gewissermaßen wie durch ein kleines Fenster Einblick in das Leben eines anderen zu gewinnen. Für unser nächstes Buch werden Shaina und ich wieder Fremde befragen. Über Sex habe ich allerdings genug gehört, deshalb freue mich darauf, ein neues Thema in Angriff zu nehmen.

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