Roman Neumann (Regisseur): Wir waren gerade zusammen im Ton-Studio, und du hast den neuen Roman Das lügenhafte Leben der Erwachsenen von Elena Ferrante eingelesen. Woran hast du Elena Ferrante wiedererkannt?
Eva Mattes: Eigentlich in ganz vielem. Alleine schon die Art, wie sie schreibt, ist gleich beziehungsweise sehr ähnlich geblieben wie in den anderen Büchern. Wie sehr sie in ihren Figuren lebt, und wie lebendig diese Figuren sind. Der neue Roman „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ spielt in Neapel. Es geht also wieder um Neapel, das sie – wie ich finde – sehr genau beschreibt. Selbst einzelne Straßenzüge, die Wege, die Giovanna, die Hauptfigur, das Mädchen, 13 Jahre alt, gehen soll. Wir lernen Neapel richtig kennen und könnten die Wege nachgehen, wenn wir dort wären. Und auch die unterschiedlichen sozialen Schichten in den verschiedenen Vierteln schildert sie wieder so detailliert wie in der Tetralogie. Die Temperamente der einzelnen Figuren sind wieder sehr konkret, sehr kräftig, zum Teil sehr ordinär – wirklich verschiedenartigste Figuren, bei denen man sich manchmal denkt: Um Gottes Willen, was sind das denn für Charaktere? Aber die kann man dann auch sehr „saftig“ sprechen.
RN: Was denkst du, wieso siedelt sie ihre Geschichte wieder an bereits bekannten Handlungsorten an?
EM: Das scheint sie nachhaltig zu bewegen und zu beschäftigen. Wahrscheinlich waren ihre Kindheit und Jugend dort sehr intensiv. So intensiv beschreibt sie es auch. Die ganzen Konflikte, die in dem Viertel stattfinden. Und sie hat ja auch einen gewissen Erfolg damit. Obwohl ich nicht glaube, dass sie so denkt oder fühlt sondern, dass sie schreibt, was sie schreiben will, worauf sie Lust hat, und was sie beschäftigt. Und das alles scheint immer noch stark in ihr zu leben: die Kindheit und das Herauskommen aus der Kindheit, das Herauskommen aus der Armut, das Herauskommen aus einem Gefangensein in einer bestimmten Gesellschaft und das Hineinwachsen in eine andere. In diesem neuen Roman hat sie ja beide sozialen Schichten, einerseits die arme und andererseits die, in die Giovanna hineingeboren ist, eine höhere Schicht. Und diese Schichten sind auch in Neapel sehr klar in der Stadt verteilt. Die Armen leben unten, und die Reichen leben oben. So habe ich es verstanden. Und damit beschäftigt sie sich ja auch immer sehr ausführlich.
RN: Als Hörbuchsprecherin bist du ja auch Hörbuchinterpretin, das heißt, deine Umsetzung ist schon eine erste Interpretation. Wenn du auf ein Buch triffst, in dem für dich bekannte Dinge auftauchen, wie z.B. Handlungsorte oder ein ähnliches soziales Milieu, was bedeutet das für dich bei der Vorbereitung?
EM: Etwas, das ich durchaus schon bei Jane Austen erfahren habe. Wenn ich einen bestimmten Stil, den Stil der jeweiligen Autorin, schon einmal in einem anderen Buch gelesen habe, finde ich mich natürlich schneller hinein, zum Beispiel in den Rhythmus. Und der Rhythmus ist sehr ähnlich in allen Romanen von Elena Ferrante und dem bei Jane Austen. Da fühle ich mich natürlich schon zuhause. Das heißt, ich kann mich gleich den Figuren zuwenden und mir überlegen – was ich sehr intuitiv mache –, welche Stimme sie haben, wie sie sprechen und wie die Erzählstimme klingt. In diesem Fall ist die Erzählstimme die eines 13-jährigen beziehungsweise 13- bis 16-jährigen Mädchens. Daher lege ich sie etwas jünger an als zum Beispiel in den Romanen, die ich davor gelesen habe.
RN: Du hast es schon angesprochen: Die Protagonistin ist, wenn wir sie kennenlernen, 13 Jahre jung. Wir erleben drei Jahre ihres Lebens mit. Wenn du dich an deine eigene Lebenszeit erinnerst: Erkennst du Parallelen zwischen der Hauptfigur und dir und, wenn ja, welche? Gibt es zeitlose Themen in diesem Buch?
EM: Ja, das kann ich schon, denke ich. Es geht um die Pubertät, und das ist ein zeitloses Thema, das jeden Menschen, der so lange lebt, betrifft. Wir alle pubertieren. Giovanna tut das sehr stark oder so, wie auch ich es ein bisschen erlebt habe. Du stellst in der Pubertät das Leben deiner Eltern in Frage. Giovanna macht das sehr intensiv und sie hat auch allen Grund dazu. Weil sie, wie der Titel schon sagt, immer mehr merkt, wie sehr ihre Eltern lügen. Sie leben ihr etwas vor, was nicht wahr ist, weil dahinter ganz viel Lüge steckt. Das findet sie allmählich heraus – unter Schmerzen natürlich. Es ist immer ein schmerzhafter Vorgang, wenn man eine Wahrheit entdeckt und eine Illusion zerstört wird. Das ist meiner Meinung nach das Hauptthema dieses Buches. Und der Katholizismus spielt eine große Rolle, also von wegen Moral. Da gibt es die Figuren, die diesen Katholizismus vertreten oder zumindest die Ansicht, dass man als Mädchen Jungfrau bleiben soll bis man verheiratet ist. Das ist ein ganz starkes Motiv. Die Eltern, die sich ganz anders verhalten, die ihr ein Leben vorspielen, dass sie in Wirklichkeit nicht leben, sondern dahinter ein heimliches, verlogen und geheim. Elena Ferrante ist ja nicht moralisierend, aber es geht natürlich um Moral. Die Eltern sagen: Du darfst nicht lügen, und selbst lügen sie. Das ist ein Vergehen und das ist unmoralisch.
RN: Wiederkehrende Themen – auch in diesem Buch – sind Herkunft und Identität. Elena Ferrante ist ja ein Pseudonym. Wir kennen die Vermutungen, dass sie neapolitanischer Herkunft ist. Es muss nicht sein, aber auf jeden Fall siedelt sie ihre Geschichte wieder in dieser ganz besonderen Stadt an. Was macht Neapel für dich so besonders als Stadt und auch in dem, wie sie es beschreibt?
EM: Ich war nie wirklich in Neapel und bin nur einmal kurz durchgefahren. Damals war ich 19 und muss sagen, dass ich sehr viel Respekt hatte vor der Stadt, weil ich immer nur Geschichten hörte von der Mafia: du wirst sofort überfallen und dir wird alles geklaut. Meiner Mutter wurde das Auto aufgebrochen, als sie einmal in Neapel war, und alle ihre schönen Sachen wurden gestohlen. Das ist sozusagen der Ruf von Neapel gewesen. Heute habe ich das Empfinden – und ich kann das Empfinden eigentlich nur aus Elena Ferrante beziehen, aus ihren Büchern und wie sie Neapel beschreibt –, dass es wirklich ein brodelnder Kessel und eine pulsierende, lebendige, vulkanische Stadt ist. Da siedet es, da gibt es eine Glut. Da gibt’s Wind. Da gibt’s das Meer. Da gibt’s versiffte Straßen, und die Wäsche hängt über den Gassen in den Vierteln. Und es riecht nach Spaghetti und Pizza. Und dann schreien sie herum und singen. Das ist sozusagen der Inbegriff meiner Vorstellung von Italien.
RN: Warum gelingt es dir so gut, einer jungen literarischen Figur wie Giovanna eine derart tolle Stimme zu verleihen? Wie baust du eine so starke Beziehung zu dieser Figur auf?
EM: Ich lasse mich einfach darauf ein. Ich lebe dann da darin. Lebe mit den Figuren. Wenn ein Buch wirklich stark ist, dann lebe ich mit den Figuren. Selbst wenn ich es nicht als Hörbuch spreche. Selbst wenn ich die Figuren sprachlich nicht so entwickle, sondern nur für mich lese. Das ist schwer zu beschreiben. Ich lese für mich ja nicht laut, sondern das erste Mal im Studio. Ich lese die Bücher dreimal vorher, um genau da in diesen Emotionen zu sein, in den Gefühlen, die die Hauptfigur vor allem hat, aber auch die anderen Charaktere. In ihrer Wut, in ihrem ordinären Sprachgebrauch, in ihrer Zartheit, die Mutter in ihrer komischen Langsamkeit. Einerseits ist alles genau erarbeitet, andererseits intuitiv.
RN: Du bist ja selbst auch Frau und dazu Mutter. Alles das, was die Figur Giovanna in dem Buch erlebt, könnte dir ja bekannt vorkommen. Ist es dir bekannt?
EM: Es ist mir bekannt. Ich habe in meiner Pubertät meine Mutter – ich bin mit meiner Mutter und meiner Schwester aufgewachsen, ohne Vater – sehr in Frage gestellt und habe genau diese Doppelmoral kennengelernt wie Giovanna. Nicht dass meine Mutter gelogen hat, das hat sie nicht, aber sie hat mir Dinge vorenthalten, und darüber war ich dann doch empört und enttäuscht, weil ich dachte: Warum? Sie war sehr großzügig, sie war sehr tolerant. Wir hatten viele Freiheiten, die andere Kinder nicht hatten. Wir haben mit ihr gespielt bis zur Dunkelheit, im Sommer draußen Federball und im Winter Brettspiele, wenn andere Kinder längst im Bett sein mussten. Und ich durfte loslaufen, wohin ich wollte und sehr früh mein Disco-Leben ausleben. Aber dann gab es eben auch diese andere Seite. Ich wurde nicht aufgeklärt. Alles, was Sexualität betrifft, wurde irgendwie vermauschelt, obwohl sie selbst ein sehr freies Leben geführt hat. Ganz frei. Und in der Pubertät findest du das heraus. Zumindest war das bei mir ähnlich wie bei Giovanna. Vielleicht kann ich es auch deswegen so gut nachvollziehen. Und habe wiederum bei meinen Kindern in deren Pubertät versucht, noch freier zu sein. Ihnen nichts vorzumachen, keine Geheimnisse vor ihnen zu haben. Ich war sozusagen ein offenes Buch. Sie hätten mich alles fragen können. Auch heute führe ich mit meiner Tochter wunderbare Gespräche. Die sind ganz großartig, das ist so interessant. Ich bin ja jetzt doch schon etwas älter. Unser Alter verschiebt sich. Ich bin manchmal ihr Kind, und sie ist meine Mutter, und gleichzeitig bin ich aber immer noch ihre Mutter und sie ist mein Kind. Da ist die Grenze irgendwie fließend mittlerweile.
RN: Wenn du deiner Tochter das Buch zum Lesen empfehlen würdest, mit welchen Worten würdest du es tun?
EM: Es gibt Stellen in diesem Buch, da denkt Giovanna so intensiv nach und reflektiert ihre Situation und die ihrer Eltern so genau, so differenziert, so wahrhaftig. Das sind Stellen, die mich einfach besonders beeindruckt haben, weil ich ihr Nachdenken so gerne mochte. Das hat mich berührt. Da denkt sie nach wie nur für sich, wie in Stille. Und das ist wunderschön. Da ist sie wahnsinnig klug, da kann ich von ihr lernen und das ist das, was ich schön finde an dem Roman oder was für mich am schönsten ist. Ich finde es ist ein tolles Buch. Aber diese Stellen, das sind Perlen.
RN: Was immer ein ganz starkes Thema ist bei Elena Ferrante im ganzen Werk, ist die Frage der körperlichen Wahrnehmung bei Frauen. Wie sehen Sie sich in ihrer Weiblichkeit, sowohl im Denken in Abgrenzung zu Männern als auch im körperlichen Sein? Fragen, die auch Giovanna sehr stark umtreiben.
EM: Das ist, glaube ich, ganz typisch für Frauen, die ja ihren Körper immer sehr, sehr kritisch betrachten. Selbst die objektiv schöne Frau hat immer noch etwas an sich herumzumäkeln. Ich bemerke oft, dass Frauen, die – sagen wir mal objektiv – nicht so schön sind oder vielleicht eher ins Hässliche gehend, was auch immer das sein soll, dass die selbstbewusster sind, weil sie schon früh lernen: Ich muss irgendeinen anderen Weg finden, attraktiv zu sein oder attraktiv zu wirken. Das heißt, sie werden entweder sehr schlau, sehr witzig oder am besten alles zusammen, und dadurch sind sie so lebendig, dass sie wahnsinnig schön sind. Aber dieses Rummäkeln am eigenen Körper und am eigenen Aussehen, das hat, glaube ich, jede Frau. Und das beschreibt Elena Ferrante ganz toll, finde ich. Da ist sie sehr offen und sehr rüde. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, wie die Frauen sich selber beschreiben in ihren Büchern. In einem ihrer Romane ertrinkt doch die Mutter, und wie sie beschreibt: ich glaube, sie hatte nur ihren BH an, als sie aus dem Wasser gezogen wird. Das ist schon ein krasses Bild. Und wie sie überhaupt den Körper der Mutter schildert in diesem ganzen Buch. Es hat immer mit Wäsche zu tun. Bei Ferrante ist es immer auch ein bisschen dreckig, ordinär, schlüpfrig. Manchmal denke ich, vielleicht hat auch ihre Art zu schreiben damit zu tun, dass sie eben gerne unbekannt bleiben und nicht darin wiedererkannt werden möchte. Weil sie so vielleicht freier schreiben kann in all dieser „Schmutzigkeit“. Man kann auch Tiefe sagen, Abgründe. Die lässt sie ja zu und vielleicht möchte sie da einfach nicht behelligt werden. Sicher nicht aus Verklemmung, sondern weil sie ihre Ruhe haben will und lustvoll schreiben will. Ich könnte mir vorstellen, dass das ein Grund ist.
RN: Was glaubst du, warum setzen sich Autorinnen oder Frauen im Allgemeinen stärker mit ihrem Körper auseinander?
EM: Weil unser Körper viel mehr durchmacht. In der Pubertät fangen wir an zu bluten. Wir kriegen unsere Periode. Das ist einmal im Monat sehr schmerzhaft bei den meisten, und da passiert ja auch ganz viel. Wenn wir schwanger werden, dann wächst ein Kind in unserem Körper. Dann gebären wir dieses Kind unter meistens großen Schmerzen. Aber das ist auch wahnsinnig schön, was da alles passiert. Wenn du schwanger wirst und deine Periode ausfällt, ist das ein irrsinniger Vorgang. Auf einmal hast du einen Rhythmus nicht mehr, den du davor hattest. Das ist mir so klar geworden. Dann gebierst du dieses Kind und der Körper entwickelt sich zurück. In der Schwangerschaft hast du vielleicht Pickel oder du bist besonders schön, oder die Haare fallen dir aus oder werden auf einmal lockig und waren vorher gerade. Dein Körper verändert sich dauernd. Vielleicht hat es damit zu tun, das wir uns irgendwie ständig damit beschäftigen. Außerdem ist es immer noch so: Ältere Männer haben jüngere Frauen, und es ist selten umgekehrt, dass ein jüngerer Mann eine ältere Frau hat. Und ob ein Mann einen Bauch hat oder keinen, spielt keine Rolle. Wie er aussieht, spielt ganz oft keine Rolle. Weil es viele junge Frauen gibt, die einen Vaterkomplex haben und sowieso auf ältere Männer stehen und so weiter. Es gibt alle Facetten, und da ist scheinbar der Körper des Mannes in einem gewissen Vorteil – oder vielleicht bilden wir uns das ein. Wenn man genau darüber nachdenkt, ist es wahrscheinlich faktisch nicht so, aber gesellschaftlich teilweise schon.
RN: Ist Ferrante dadurch eine feministische Autorin?
EM: Sie denkt sehr viel über so etwas nach, und ihre Bücher handeln allgemein aber natürlich besonders von der Befreiung der Frau aus ihren gesellschaftlichen Bedingungen, Verhältnissen und aus der gesellschaftlichen Gefangenschaft, von der Befreiung von den Männern und aus der Unterdrückung. Ob sie deswegen eine feministische Autorin ist, das kann ich nicht so definitiv sagen.
RN: Sie schreibt sehr leicht, sehr zugänglich, aber die Themen, die sie verarbeitet, sind alles andere als leicht. Wie würdest du dieses Geheimrezept für dich beschreiben, auch als Interpretin? Also diese literarische Mischung, was ist daran das Besondere für dich beim Lesen und beim Einsprechen?
EM: Ich glaube, es ist wirklich die Lebendigkeit der Figuren, und dass sie sie so genau in diese Figuren hineingeht und sie so intensiv leben lässt. Sie lässt ihre Figuren ihr Leben leben. Und das macht sie sehr direkt. Und ich glaube, da interessiert sie sich nicht für große Literatur, sie schreibt einfach. Sie schreibt, wie es ihr aus ihrer Haut fließt, aus ihrem Blut, aus ihren Gedärmen, aus allem heraus wahrscheinlich. Wir merken es ja auch, wenn wir Elena Ferrante aufnehmen im Studio, wie wir uns in den Pausen unterhalten. Das ist anders als sonst. Das kenne ich so nicht von anderen Büchern. Wir sprechen dann auch durchaus über uns. Wir kommen uns auf eine Weise näher über dieses Buch, weil wir uns über dieses Buch verständigen. Über dieses Buch verständigen wir uns miteinander. Das finde ich echt bemerkenswert.
RN: Gibt es bei diesem Buch für dich etwas wirklich Neues, das dich überrascht hat?
EM: Es ist, glaube ich, wirklich das, was ich vorhin gesagt habe, dieses Reflektieren, das sie in diesem Buch sehr explizit und sehr genau macht. Wo sie plötzlich so konkret beschreibt, was sie denkt über Männer und Frauen und die Menschen überhaupt. Das hat in diesem Buch an manchen Stellen noch einmal eine andere Qualität.
RN: Ich habe dir hier eine Frage zum letzten Satz des Romans aufgeschrieben. Ich weiß nicht, ob wir den hier erwähnen sollten, wir wollen ja nicht zu viel verraten, aber es ist ja schon ein Schlüsselsatz, der viel über den Inhalt aussagt.
EM: Klar, wenn man in diesem Alter ist, zwischen 12 und 16 Jahren, denken sicher die meisten: So will ich nicht werden. Ich will das alles ganz anders machen. Und ich erziehe meine Kinder ganz anders. Den Fehler mache ich bestimmt nicht. Nicht wissend, dass wir Fehler machen werden. Das sind dann andere Fehler. Oder vielleicht machen wir nicht die Fehler unserer Eltern, und genau das ist dann falsch. Du kannst nicht alles richtig machen. Das geht gar nicht. Und das wäre vielleicht auch gar nicht gut, denn unsere Kinder müssen sich von uns entfernen, um weiterzukommen als wir. Also müssen sie uns in gewisser Weise auch angreifen können. Aber das weiß Giovanna noch nicht, wenn sie diesen letzten Satz sagt. Giovanna denkt einfach, sie will nicht so verlogen werden, wie sie das mit ihren Eltern erlebt hat. Sie möchte wahrhaftiger sein. Sie möchte ihren Kindern oder auch ihren Freunden, ihren Geliebten, ihren Männern nichts vormachen und kein geheimes Leben hinter dem eigentlichen Leben führen. Das will sie sicher alles nicht.
RN: Was kannst du uns über die Hauptfigur Giovanna verraten?
EM: Ich finde sie mutig und selbstbestimmt. Sie ist auf der Suche und zwar, weil sie verletzt wird. Ihr Vater sagt etwas, womit er ihr weh tut, und das ist eigentlich der Auslöser, auf die Suche zu gehen. Sie will dieser Verletzung auf den Grund gehen. Da gibt es eine Person, die damit zu tun hat, und diese Person will sie aufsuchen. Sie ist außerdem in der Pubertät, stellt das Denken und das Leben ihrer Eltern in Frage und kommt immer mehr dahinter, was alles nicht stimmt, und dass sie ihr ein Leben vorspielen, das nicht wahr ist. Sie haben zwei Leben sozusagen, sie führen ein Doppelleben. Das findet sie heraus und geht irgendwie ihren Weg durch Neapel, bis sie immer mehr dahinter kommt, was eigentlich los ist und wird auf diesem Weg erwachsen.
Da erinnern mich auch einige Teile wieder an die Tetralogie. Es ist ein Mädchen, wieder in jungen Jahren. Es beginnt nicht ganz in der Kindheit, aber mit 13. Sie hat auch zwei Freundinnen und ich habe schon gedacht, nachdem ich es das erste Mal gelesen habe: Der Stil ist mir bekannt. Ich fühle mich darin zuhause. Da muss ich nicht so viel erforschen, was den Rhythmus anbelangt. Das fand ich erleichternd für meine Arbeit im Studio.
RN: Was ist einerseits das Schöne an der Arbeit als Hörbuchsprecherin und was ist andererseits die Herausforderung daran?
EM: Ich lese gerne, Punkt 1. Und ehrlich gesagt mag ich bei manchen Stoffen auch meine Stimme dazu. Also ganz narzisstisch. Ich arbeite mich gerne hinein in diese Stoffe, in das Lesematerial. Das ist wie sich eine Rolle zu erarbeiten, oder wenn ich Lust habe, eine bestimme Rolle zu spielen. Ich möchte ja nicht jedes Buch lesen. Es muss schon gut geschrieben sein. Es ist sehr anstrengend, im Studio zu lesen. Es ist eigentlich wahnsinnig anstrengend, aber trotzdem mache ich es gerne. Ich mag es nicht, wenn ich mich dauernd verspreche, weil ich will, dass es flüssig ist und flüssig bleibt und dass ich sozusagen im Stoff bleiben kann. Ich mag gerne diese schnellen Wechsel und da merke ich auch, dass ich mittlerweile eine gewisse positive Routine habe. Wenn ich eine Figur habe, die ganz tief spricht und ich dann sofort ganz anders wieder weitersprechen kann, kann ich mich selbst beeindrucken. Es macht mir Spaß. Das ist wie, wenn man ein Instrument gut spielen kann. Und die Stimme ist ja ein Instrument. Ich wollte immer eine tolle, große Stimme haben. Ich wollte brüllen können wie ein Löwe. Daran habe ich aber gar nicht so gearbeitet. Ich bin viel zu faul dafür. Ich bin kein fleißiger Mensch in dem Sinne. Aber ich wollte das immer, das war immer mein Wunsch. Und dass meine Stimme auf einmal so viel Gewicht bekommt, dass ich so viele Hörbücher lesen darf, dass ich singen darf und kann, das habe ich mir so erarbeitet. Und da bin ich in gewisser Weise auf stolz drauf. Das gefällt mir.