Aktuelles | 14.01.2022 | Mosaik Verlag

Dr. Bianca Kellner-Zotz über ihr Buch "Happy Family"

Bianca Kellner-Zotz

Die Kommunikationswissenschaftlerin erklärt, wie das »Aufmerksamkeitsregime« Familien unter Druck setzt.

In 2018 haben Sie das vorliegende Buch als Dissertation publiziert und jetzt für die Veröffentlichung beim Goldmann Verlag nochmal überarbeitet. Was ist neu?

In erster Linie die Zielgruppe und damit die Form der Ansprache. Eine Dissertation ist eine wissenschaftliche Arbeit mit einem umfangreichen Theoriekonzept. Die neue Buchfassung konzentriert sich auf die Lebenswelt der Familien, auf ihre alltäglichen Erfahrungen. Deshalb stehen die Beispiele im Vordergrund, die nun noch mehr Raum einnehmen und aktualisiert worden sind. Und natürlich spielt Corona eine Rolle. Ich habe mich gefragt, ob das viel beschworene „New Normal“ zu einer Entschleunigung des Familienalltags führen wird, ob die nicht zuletzt durch die Orientierung an den Medien hervorgerufene Sucht nach Aufmerksamkeit an Bedeutung verliert. Tatsächlich scheint das allen Pandemie-Einschränkungen zum Trotz nicht der Fall zu sein. Die Medialisierung hat uns weiterhin fest im Griff.

 

Was möchten Sie mit dem Buch „Happy Family“ erreichen?

Ich kenne viele Familien, die in der Stressfalle sitzen und nicht wissen, warum. Das Buch bietet die Möglichkeit, die eigene Situation zu reflektieren und all das abzustellen, was nur Zeit frisst und uns unglücklich macht. Warum tun wir, was wir tun? Warum suchen wir ständig nach Ablenkung, warum posten wir Fotos unserer Kinder, warum rennen wir schon mit Babys zum Musikgarten? Die meisten Familien leben zu sehr im Außen und setzen sich dadurch unter Druck. Wir sollten ehrlich mit uns sein. Basteln wir am Kindergeburtstag mit den kleinen Gästen ein Steckenpferd, weil uns das Spaß macht oder weil wir die anderen Eltern mit unserer Kreativität und Planungskompetenz beeindrucken wollen?

 

Wer sollte Ihr Buch lesen?

In erster Linie könnten vor allem die Mütter profitieren. Denn sie sind es, die die Hauptlast der Familienarbeit tragen und sich in erster Linie um Erziehung, Alltagsgestaltung und Freizeitplanung kümmern. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass auch Väter, Großeltern, Frauenärzte, Erzieher und Lehrer beim Lesen einige Aha-Momente haben. Jeder, der Familie hat oder mit Familien arbeitet, wird sich zumindest in Teilen wiedererkennen.

 

Heutzutage kann man sich fast alles leisten, da sind Erlebnisse  - ob nun alleine oder in der Gruppe/Familie - die wahre Währung und auf Instagram visuell aufbereitete Erlebnisse die Königsklasse. Warum sollte man sich davon freimachen und wie kann das gelingen?

Schöne Erlebnisse, gemeinsame Feste und Urlaubsreisen sind etwas Tolles und machen unser Leben reich. Aber wir finden oftmals nicht mehr das richtige Maß, sondern hecheln von einem Höhepunkt zum nächsten und versuchen, jedes Ereignis zu etwas Besonderem zu machen, vom Heiratsantrag bis zum Wochenendausflug. In dem Bemühen, jeden an unserem Glück teilhaben zu lassen, verpassen wir die Schönheit des Moments. Ein Beispiel: Eine Hebamme erzählte mir von einem Elternpaar, das sich im Kreißsaal schrecklich aufregte, weil es kein WLAN gab. Sie wollten unbedingt gleich nach der Geburt Bilder des Babys posten. Als das nicht gelang, fing die frisch gebackene Mutter vor lauter Enttäuschung zu weinen an. Dabei hielt sie doch ein völlig gesundes Kind im Arm. Ich kann nur jedem raten, sich selbst ehrlich zu befragen, was er wirklich für sich selbst oder für den Beifall des Umfelds tut. 100 Likes für ein Baby-Foto sind eine kurzfristig wirksame Droge, glücklich machen sie nicht.

Bianca Kellner-Zotz

Welche seelische Entwicklung nehmen Kinder, die von klein auf via Instagram von Fremden „beglotzt“ werden und dafür ungefragt in Szene gesetzt werden?

Ich bin keine Psychologin, sondern Kommunikationswissenschaftlerin, deshalb frage ich mich, welche Auswirkungen es auf Kinder hat, wenn sie ununterbrochen mit Medien bespaßt werden und wahrnehmen, dass auch die Eltern mehr Freude daran haben, im Internet zu surfen als mit ihnen zu spielen. Ich bin überzeugt davon, dass sich ihre Bewertungsmaßstäbe an der Logik der Massenmedien orientieren. Was nicht spannend, aufregend oder spektakulär ist, hat keinen Wert – und wird weggeklickt. Im Ergebnis dreht sich die Aufmerksamkeitsspirale immer weiter. Ich habe Kleinkinder gesehen, die versuchen, die Seiten eines Bilderbuches weiterzuwischen, und ich kenne Abiturienten, die nicht in der Lage sind, einen Text von mehr als 10 Seiten zu lesen, geschweige denn zu verstehen. Eine Gesellschaft, die die Fähigkeit zur intrinsischen Motivation verliert, ist nicht zukunftsfähig.

 

Welchen Einfluss auf Jugendliche haben die Schönheits-Maßstäbe, die auf Instagram gesetzt werden?

Dazu gibt es mittlerweile viele Studien, die zeigen, wie stark sich die Jugendlichen durch mediale Vorbilder unter Druck gesetzt fühlen. Aber auch die Rückmeldungen meiner Studenten geben diesbezüglich Hinweise. Viele wollen die Auswirkungen sozialer Netzwerke auf Psyche und Verhalten in ihren Abschlussarbeiten untersuchen, weil sie an sich selbst spüren, wie unglücklich sie das ständige Vergleichen macht. Während eines Vortrags habe ich einen jungen Mann kennengelernt, der irgendwann die Notbremse zog und sich von Instagram verabschiedete. Er erzählte mir, dass er sich jetzt wieder viel besser mit seinen Freunden unterhalten könne. Vorher waren etwa die Erlebnisse im Sommerurlaub gar kein Thema mehr, weil alle die Insta-Storys gesehen hatten. Und er hat plötzlich mehr Zeit für die wirklich wichtigen Dinge. Man sollte bei Instagram aber nicht nur an Jugendliche denken. Schwangere und Mütter sind ebenfalls Opfer des Perfektionswahns. Wenn eine Frau sechs Wochen nach der Geburt noch einen Bauch hat und dann Promi-Mütter-Models auf dem Laufsteg sieht, ist sie extrem frustriert. Und meldet sich beim vielsprechenden Bodify-Elektronen-Training an anstatt sich um ihren Beckenboden zu kümmern.

 

Wie wirkt sich die digitale Dauerbeschallung auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen aus?

Aus meiner Sicht beobachten wir eine zunehmende Verkürzung der Aufmerksamkeitsspannen. Das ist ein großes Problem. Komplexe Probleme kann man nicht in Zehn-Minuten-Lernen-Muss-Immer-Spaß-Machen-Einheiten bearbeiten. Es fällt Kindern und Jugendlichen immer schwerer, sich länger zu konzentrieren, sich auch mal durchzubeißen, sich nicht ständig durch neue Impulse ablenken zu lassen. An meinen eigenen Kindern kann ich beobachten, dass etwa TikTok-Videos oft nur 2 Sekunden haben, um sie zu überzeugen. Wenn es dann nicht lustig ist, wird weitergewischt. Diese Generation kann sich gar nicht vorstellen, dass es sich lohnen könnte, einem Thema Zeit zu geben, sich zu entwickeln.

 

Viele Eltern versuchen, ihre Kinder so lange wie möglich vor zu viel Fernseh- und Internetkonsum zu bewahren. Die neuen Medien erscheinen dagegen zunehmend als alternativlos, wenn man im Zuge der Digitalisierung nicht abgehängt werden will. Was raten Sie?

Ich finde es interessant, dass es gerade die Vorreiter der Digitalisierung aus dem Silicon Valley sind, die ihre Kinder möglichst lange vom Smartphone fernhalten. Waldorf-Schulen werden dort immer beliebter. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass uns digitale Geräte eher daran hindern, unsere Synapsen vielfältig mit einander zu verschalten, sie begrenzen unsere Phantasie und unsere Innovationsfähigkeit – das ist das Wesen des binären Codes. Meiner Erfahrung nach brauchen kleine Kinder keine digitalen Geräte, auch in der Grundschule sind Laptops völlig überflüssig. Kinder lernen sehr intuitiv und sie sollten behutsam an die technischen Möglichkeiten herangeführt werden. Die Eltern haben hier eine wichtige Vorbild- und Anleitungsfunktion. Es ist nichts Verwerfliches, einen Zeichentrickfilm zu sehen oder kindgerechte YouTube-Videos abzuspielen, solange die Eltern die Zeit im Blick haben und auch gemeinsame Brettspiele auf dem Programm stehen. Aber Kleinkindern beim ersten Aufschrei schon das Smartphone in die Hand zu drücken, ist der falsche Weg. Das Gerede von der angeblichen Alternativlosigkeit sollte uns kalt lassen. Wenn Kinder von klein auf lernen, aus sich heraus Ideen zu entwickeln und sich für ihre Welt zu interessieren, werden sie kein Problem mit der Digitalisierung haben.

Bianca Kellner-Zotz

Warum haben Frauenmagazine und Elternratgeber bei Ihnen Hausverbot?

Frauenzeitschriften stressen mich. Hochglanzfotos, Perfektionsanleitungen und die ständigen Nur-10-Minuten-Pro-Tag-Heilsversprechen rauben mir Zeit und Nerven. Da lese ich lieber einen Roman. An den Elternratgebern stört mich, dass oft ein Glaubenskrieg geführt wird. Die gute Mutter stillt, die gute Mutter lässt das Baby im eigenen Bett schlafen – aber nur auf dem Rücken! – die gute Mutter kocht Biogemüse. Ich habe zwei grundverschiedene Töchter, die vom ersten Tag an unterschiedlich geschlafen, gegessen und gespielt haben. Als ich den Großteil der Ratgeber aus dem Haus verbannt hatte, konnte ich diese Unterschiedlichkeit zulassen – und war viel zufriedener. Wir sollten uns immer bewusst machen, dass sämtliche Medienprodukte einer eigenen Logik folgen, die auch eine Form der Selbstoptimierung umfasst. Nicht umsonst wachsen die Service-Teile stetig an. Da können hilfreiche Tipps dabei sein, aber es gibt keine allgemeingültige Bedienungsanleitung für ein glückliches Frauenleben oder eine erfolgreiche Erziehung. Wir müssen in uns selbst hineinhören und unsere Kinder richtig anschauen, dann finden wir oftmals die Antworten auf unsere Fragen.

 

Sie schreiben, für die moderne Frau sei der Alltags-Stress mit Familie, Haus, Garten und Job wie eine Art „Phallusersatz“. Woher kommt dieser unbedingte Wunsch nach Anerkennung?

Anerkennung ist ein menschliches Grundbedürfnis. Mit dem Bedeutungsgewinn von Aufmerksamkeit in der modernen Mediengesellschaft hat hier jedoch eine starke Aufwertung stattgefunden. Was wir tun, ist auf Sichtbarkeit ausgerichtet. Wer nicht bloggt und nicht postet, existiert nicht. Die häusliche Sphäre ist jedoch meist unsichtbar – und bekommt keine Anerkennung. Die Frauen spüren das. Sie können sich abstrampeln wie verrückt, aber für Hausarbeit und Kindererziehung bekommen sie keinen Applaus. Da muss mindestens noch ein verantwortungsvoller Posten dazukommen. Sie müssen immer im Stress sein, immer auf dem Sprung, immer alles managen, sonst werden sie nicht wahrgenommen und als Heimchen am Herd belächelt. Dazu gehört natürlich auch, die Kinder Geige lernen zu lassen und vom Auftritt im heimischen Wohnzimmer ein Bild auf WhatsApp zu stellen. Wenn die Frauen mehr Anerkennung für die Familienarbeit bekämen, müssten sie nicht so sehr auf das Außen schielen.

 

Sie sagen, heute würden sich Frauen bereitwillig gegenseitig angreifen: „Vollzeitmutter gegen Vollzeitmanagerin, Stillmutter gegen Flaschenmutter, Ein-Kind-Mutter gegen Drei-Kind-Mutter, Landmutter gegen Stadtmutter“. Woher kommt das?

Die versagte Anerkennung ist ein entscheidender Faktor. Darunter leiden eigentlich alle Mütter, aber anstatt die gesellschaftlichen Ursachen zu reflektieren, steigen sie in den Wettbewerb um das erfolgreichste Lebensmodell ein und bekriegen ihre Mitschwestern. Da hat uns der Kapitalismus einen schönen Bärendienst erwiesen. Dazu kommt der gesellschaftliche Diskurs, der sich an der Medienlogik orientiert und immer neue Konfliktlinien aufmacht. Dabei stehen hinter sämtlichen propagierten Frauenidealen Interessen. Das war zu jeder Zeit so, daran hat sich nichts geändert. Politiker, die Mütter aus der „Teilzeitfalle“ holen wollen, freuen sich in erster Linie über höhere Rentenbeitragszahlungen. Und die Ganztagsschule hat weniger mit Bildung als mit längerer Betreuung zu tun. Wir Frauen sollten uns nicht mehr instrumentalisieren lassen, sondern selbstbewusst unseren eigenen Weg gehen – ohne den der anderen zu diskreditieren.

 

In Ihrem Buch widmen Sie sich auch dem Thema „Schule“ und bezeichnen Eltern von heute als  „bildungspanisch“. Was steckt dahinter?

Natürlich möchten alle Eltern das Beste für ihre Kinder. Die gut ausgebildete Mittelschicht geht davon aus – und der Diskurs bestärkt sie Tag für Tag darin - , dass nur Abitur und Studium in eine sichere Zukunft führen. Gleichzeitig merken sie, dass das Abitur alleine nicht mehr helfen wird, wenn pro Jahrgang mehr als die Hälfte die Hochschulreife erwerben. Also investieren sie hektisch in viele andere Bildungsangebote, von der Musikschule über private Computerkurse bis hin zum Auslandsjahr. Dabei übersehen manche, was den Kindern wirklich liegt, wo sie ihre Talente haben. Aus Panik trimmen sie ihren Nachwuchs darauf, möglichst viel soziales Kapital anzusammeln. Ebenfalls ein gigantischer Stressfaktor, der dazu führt, dass unglaublich viele junge Menschen spätestens im Studium in einen Burnout rutschen. Ich halte die zunehmende Akademisierung für einen Fehler, der den Fachkräftemangel, z.B. im Handwerk, weiter verstärken wird, und Eltern und Kinder unter gewaltigen Druck setzt.

 

Sie sagen, Eltern, Erzieher und Lehrer müssten mehr an einem Strang ziehen. In welcher Form könnte das passieren?

Eltern, Erzieher und Lehrer sitzen eigentlich in einem Boot. Sie sind Pädagogen, begleiten Kinder und Jugendliche dabei, sich zu reifen Menschen zu entwickeln. Gleichzeitig müssen alle drei Gruppen erleben, wie ihre Leistung abgewertet wird. Eltern können es eh nicht richtig machen, entweder ist der Nachwuchs zu frech oder zu verweichlicht. Erzieher gelten als Dienstleister, die mit den Kindern basteln und singen, sich aber bitte nicht zu wichtig nehmen sollen. Und Lehrer dürfen sogar von Politikern als faule Säcke beschimpft werden. Wie wenig Kinder unserem Staat wert sind, wissen wir spätestens seit Corona. Wir haben in sämtlichen pädagogischen Bereichen viel zu wenig Personal, aber anstatt massiv in Bezahlung und Arbeitsbedingungen zu investieren, sperren wir Kitas und Schulen zu und lassen die Familien (auch Erzieher und Lehrer haben Kinder!) mit Betreuung und Homeschooling allein, bevor wir die Jüngsten dann mit völlig überzogenen Corona-Maßnahmen traktieren. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, dass sich Eltern, Erzieher und Lehrer solidarisieren und von der Politik eine gezielte Aufwertung ihrer Berufsbilder verlangen. Im alltäglichen Umgang mit einander brauchen wir mehr Respekt: Eltern schimpfen nicht über Erzieher und Lehrer, schon gar nicht vor den Kindern, Erzieher und Lehrer vertrauen den Eltern und umgekehrt. Und das Kindeswohl – das im Übrigen auch durch Wohlstandsverwahrlosung gefährdet ist – muss endlich oberste Priorität haben.

 

Warum boykottieren Sie den Elternklassenchat und -stammtisch?

Reiner Selbstschutz. Auf Elternstammtischen wird über die Lehrer geschimpft, das ist völlig kontraproduktiv. Oder es geht wieder um das elende Vergleichen, das mündet schnell in Selbstdarstellung. Zudem ist so ein Stammtisch wieder nur ein Termin, der Zeit und Nerven kostet. Der Klassenchat ist noch schlimmer. Da hagelt es dann 100 Mitteilungen, weil die Lehrerin angeblich viel zu streng korrigiert oder ein Mitschüler den anderen beleidigt hat. In einem Fall erinnerte der Chatverlauf an das Broadway-Stück „Der Gott des Gemetzels“. Ein Bub hatte einen anderen geschubst, der fiel zu Boden und verstauchte sich den Arm. Im Chat tauchten Beweisbilder auf, die Mütter beschimpften sich aufs Übelste. Und alle konnten mitlesen. Was wieder Zeit und Nerven frisst. Darauf kann ich sehr gut verzichten.

 

Interview zum Abdruck freigegeben
© Julia Meyn für den Goldmann Verlag

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