Seit dreizehn Jahren leben Sie die Hälfte des Jahres auf 2000 Meter Höhe in einer abgelegenen Hütte im Aostatal. Wie hat diese Zeit Ihr Leben seither beeinflusst?
Es ist kein wirklich abgelegener Ort, er befindet sich unweit der Zivilisation. Gerade weit genug weg, um sich einsam fühlen zu können. Ich würde sagen, dass die schwierigste Lektion für mich tatsächlich die Einsamkeit war: Ich habe mich nie wohl damit gefühlt. Geholfen hat mir die Gesellschaft des Waldes, des Himmels, der Gewässer und einiger besonderer Menschen, denen ich dort oben begegnet bin. Das mag seltsam klingen für jemanden mit Einsiedlerambitionen, aber mein Leben in den Bergen ist vor allem von Begegnungen geprägt. Von diesen Freunden habe ich wahnsinnig viel gelernt, vor allem einer hat mich zur Figur des Bruno in Acht Berge inspiriert. Ihm habe ich zu verdanken, dass ich mit einer deutlich älteren Kultur in Berührung gekommen bin, mit der der Bergbewohner, die hier vor vielen Jahren lebten.
Die Geschichte von Luigi und Fredo erzählt von ungelösten familiären und persönlichen Konflikten. Welche Rolle spielt dabei die Landschaft, in der die beiden Brüder leben?
In meinen Romanen beobachtet die Erde das menschliche Treiben mit der Gleichgültigkeit der Natur flüchtigen Besuchern gegenüber. Es handelt sich um eine verletzte, geschädigte und zugleich verwilderte Landschaft. Kaum weicht der Mensch einen Schritt zurück, holt sich der Wald alles wieder – unabhängig davon ob es sich um nicht länger bestellte Felder oder aufgegebene Fabrikhallen unten im Tal handelt. Auch die Menschen, die an diesen Orten leben, sind von der
Geschichte verletzt und beschädigt worden. In vielen unserer Täler kam es zwischen den Sechziger- und Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts zu einer extremen Entvölkerung, als die Bergbewohner fortzogen, um in den Fabriken zu arbeiten. Deshalb erzählt die Geschichte von Luigi und Fredo vor allem von gekappten Wurzeln, von Verlusten, von Menschen, die keinen Bezug mehr zu den Bergen haben, die zum Teil urbanisiert und dem Tourismus gewidmet, zum Teil aber auch komplett verlassen wurden. Doch manchmal gelingt es der Landschaft noch sie zu überraschen, sie nach Hause zurückzuholen. Diese Wirkung hat der Fluss auf die beiden Brüder. In dem vorliegenden Roman ist die Sesia die verlorene Seele des Tals.
Elisabetta, die dritte Ihrer Hauptfiguren, hat die Stadt und damit auch kulturelle und soziale Möglichkeiten hinter sich gelassen zugunsten einer Rückkehr zur ursprünglichen Natur – gleichwohl ist ihr dort ihre Isolation deutlich bewusst. Sind diese Sehnsucht und Zerrissenheit exemplarisch für unsere urbanen Gesellschaften?
Ich denke schon. Die Rückkehr in die Berge ist ein Phänomen, das wir in den letzten Jahren beobachtet haben, wenn auch in kleinem Maßstab. Das ist eine Entscheidung von Antikonformisten, ausgelöst durch die derzeitige Umweltkrise. Diese Krise sorgt für eine immer größere Kluft zwischen dem Menschen und der Erde. Wir kennen uns nicht mehr damit aus, so, als wären wir nicht ihre Geschöpfe. Einige von uns haben das Bedürfnis, diese Beziehung wiederaufzunehmen. Der Preis, den wir dafür zahlen, ist der, dass wir auf die Annehmlichkeiten der Stadt verzichten müssen. Und Menschen wie Elisabetta stellen fest, dass das Ganze kein Märchen ist: Das Leben in den Bergen ist hart. Die Isolation, die Schwierigkeit, eine befriedigende Arbeit zu finden, das Fehlen einer Infrastruktur und eines kulturellen Angebots sind die Kehrseite dieser Entscheidung.
In Ihren Romanen geht es wiederkehrend um den Menschen in der Natur, so auch in Unten im Tal. Umweltthemen liegen Ihnen sehr am Herzen. Glauben Sie (noch) daran, dass die Menschen und die Natur in Einklang leben können?
Ich glaube, dass wir sie respektieren können, indem wir versuchen, möglichst wenig Spuren zu hinterlassen. Ich sage das als Einwohner einer europäischen Großstadt: Wir sind zu viele, um von einem harmonischen Miteinander sprechen zu können. In den Alpen scheint mir die Harmonie einer bäuerlichen Kultur, in der sich der Mensch um die Natur gekümmert, sie bearbeitet und ihre Früchte geerntet hat, einer klaren Trennung zwischen urbaner und naturbelassener Welt gewichen zu sein. Da sind einerseits die Stadt und ihre Ausläufer, andererseits die Naturparks und Naturschutzgebiete. Wir müssen alles tun, um diese Orte zu schützen, weil sie ununterbrochen Angriffen ausgesetzt sind. Zum Glück sehe ich ein neues Umweltbewusstsein bei der jüngeren Generation und ihr vertraue ich.
(Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt)