Wie schafft man es, nicht das Leben der Eltern zu leben, lieber Manuel Niedermeier? Haben Sie da einen Rat für uns?
MN: (lacht) So ganz genau weiß ich das auch nicht! Ich glaube, die einfachste Antwort lautet: Indem man aus ihren Fehlern lernt. Wenn man das macht, ist das Leben zwangsweise ein ganz anderes (ob besser oder schlechter, sei mal dahingestellt). Die Augen nach weiteren Vorbildern offenzuhalten kann auch nicht schaden ... Und indem man ein Buch schreibt.
Auf der Suche nach einem eigenen Weg findet Ihr Protagonist in Arthur Cravan ein Vorbild. Wie kam der Stoff zu Ihnen?
Vor ein paar Jahren hat mir eine Freundin von ihm erzählt. Cravan war ein Britisch-Schweizer Schriftsteller, der den Dadaismus teilweise vorweggenommen hat. Außerdem war er Amateurboxer und Lebenskünstler, eine Person wie geschaffen für einen Roman! Ich fand ihn sofort spannend und habe entdeckt, dass es im deutschsprachigen Raum kaum Informationen zu ihm gab. So begann die Recherche in Englisch, Französisch und Spanisch. 2019 machte ich dann eine erste Reise nach Mexico, wo Cravan kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs verschollen ging, 2022 folgte eine zweite Reise dorthin. Wenn man so will, kam der Stoff also durch Zufall zu mir.
Was genau hat Sie an Cravan fasziniert, was macht ihn zu einem Helden der Unabhängigkeit?
Mich hat vor allem interessiert, wie es ihm heute als Kunstfigur ergehen würde und ob Menschen, für die Kunst oder Literatur – in dieser absoluten Form – der Mittelpunkt des Lebens sind, überhaupt noch zeitgemäß sind. Cravan war radikal im besten Sinne; er hat sich von allem Vorangegangenen und Gegenwärtigen losgesagt. Cravan dabei zuzusehen, wie er die Pariser Kunstszene der 1910er aufmischt, sich zu überlegen, welche Grenzen er überschreiten würde, um einen gewünschten Effekt zu erzielen, das fand ich irrsinnig spannend. Ob ich mit ihm befreundet hätte sein wollen, weiß ich allerdings nicht.
Ihr Roman spielt im Hier und Heute und erzählt die Geschichte von Ralf und Małgorzata, die eine ebenso innige wie traurige Liebe verbindet. Welche Rolle spielt Cravan, der Avantgardist, im Leben der beiden?
Aus unterschiedlichen Gründen suchen Ralf und Małgorzata nach Lebensentwürfen, die sich von denen ihrer Eltern unterscheiden. Für Literaturinteressierte wie Ralf ist die Avantgarde da ein guter Ansatzpunkt. Cravan ist für ihn das richtige Vorbild zur richtigen Zeit. Er erinnert Ralf an sich – vor allem an sich, wie er sein könnte ... schlagfertig, kreativ und unabhängig ... in der Lage, sich eine eigene Welt zu erschaffen, wenn die, in der man als Kind zwangsläufig leben muss, von Unsicherheiten geprägt ist. Für Małgorzata als Literaturwissenschaftlerin ist vor allem Mina Loy spannend. Loy war mit Cravan verheiratet und hat in der Avantgardistischen Szene als Dichterin eine große Rolle gespielt – eine größere als Cravan, wenn man ehrlich ist. Cravan oder besser: die Verbindung zwischen Mina Loy und Arthur Cravan verbindet also auch Ralf und Małgorzata. Loy und Cravan sind ihre Wahlverwandtschaften. Einzeln und als Paar. Ich glaube, es ist leichter, mit Wahlverwandtschaften umzugehen als mit angeborenen Verwandten. Bei ersteren verzeiht man eher.
Sie haben für Ihren Roman eine ungewöhnliche Erzählsituation gewählt. Ralf spricht in einem Livestream vor hunderten von Zuhörern über Cravan, Małgorzata und seine Familie. Warum braucht es diesen erzählerischen Kniff?
Ich glaube, dass jede Erzählung ihre eigene Form fordert. In „Das ist einer, der lebt!“ geht es auch um die Macht von Geschichten. Was wir uns über uns erzählen, ist mächtig. Was wir anderen über andere erzählen auch. Cravan ist eine Stellvertretergeschichte, weil die eigentliche Geschichte - die von Ralf und Małgorzata - viel zu schmerzhaft ist. Ralf muss sie erst jemandem erzählen, der damit nichts zu tun hat. Vielleicht ist er nach diesem letzten Probedurchlauf vor Publikum endlich dazu bereit, sich dem Erlebten zu stellen.
Das Gespräch führte Angelika Schedel, Lektorin im Bereich Penguin Belletristik
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