In Ihrem neuen Roman »Die Himmelsrichtungen« erwecken Sie eine schillernde historische Persönlichkeit zum Leben: Amelia Earheart, amerikanische Flugpionierin und Frauenrechtlerin, die damit berühmt geworden ist, nach Charles Lindbergh als erste Frau den Atlantik überquert zu haben, die aber auch jenseits des Fliegens ein wahnsinnig spannendes Leben geführt hat, sie hat geschrieben, war politisch aktiv. Wie ist Amelia als Figur zu Ihnen gekommen?
Ich habe Amelia Earhart immer aus der Ferne geschätzt, eher als Symbol und noch ganz ohne Vorstellung davon, was für eine besondere Person sie war. Irgendwann habe ich mitbekommen, dass ihr Nachlass zugänglich ist: Briefe, Notizen, literarische Skizzen, sogar ihr herrlich souveräner Ehevertrag. Ich fing an zu lesen und bin ihr verfallen. Dass sie – widerstrebend – einen Verleger geheiratet hat, gefiel mir natürlich auch. Er war ziemlich gut darin, ihre Abenteuer zu Geld zu machen, da hat es Spaß gemacht, ihn als die lächerliche Figur vorzuführen, die Verleger bisweilen sind.
Kürzlich tauchten dann noch Amelia Earharts Gedichte auf, die sie ihr Leben lang heimlich geschrieben hat – ich mag sie sehr. Von da an war kein Halten mehr. Wann immer ich im Schreiben stockte, konnte ich einfach bei ihr nachlesen, sie hat immer alles besser gesagt.
Wie haben Sie sich Amelia erzählerisch genähert? Wir haben es mit einer weiblichen Ich-Erzählerin und einem männlichen Autor zu tun vor dem Hintergrund einer Figur, die sich selbst in den Kategorien männlich/weiblich nicht wiederfindet, wie wir im Roman erfahren – das ist eine spannende Gemengelage. Haben Kategorien von Gender, Körperlichkeit für Sie beim Schreiben selbst eine Rolle gespielt?
Auf jeden Fall. Amelia Earhart hat ihre Zeitgenossen auch deshalb so fasziniert, weil sie kaum zu fassen war, nicht zuletzt lebte sie jenseits eingeübter Vorstellungen von Frau und Mann. Und das zu einer Zeit, als es für all das Dazwischen und Außerhalb noch keine festen Begriffe gab. Ihr selbst wären die ohnehin egal gewesen – um Festschreibungen hat sie sich nie geschert. Ich kenne kaum jemanden, der so sehr sein Ding gemacht hat wie sie. Eines ihrer letzten Fotos zeigt sie mit einer Gruppe Frauen, die alle in den zeitüblichen Blusen und langen Röcken und Föhnfrisuren vor Amelia Earharts Flugzeug stehen – und sie selbst hockt oben auf dem Cockpit ihrer Lockheed Electra mit verstrubbelten Haaren in Karohemd und Hosen und lacht.
Und zur Heldin eines Romans macht sie nun ausgerechnet ein Mann?
Oh, the irony! Ich muss hoffen, dass Amelia sich daran nicht gestört hätte – sie hat ihr Leben lang eng und gut mit Männern zusammengearbeitet. Ich selbst schreibe ganz gerne aus unterschiedlichen Perspektiven, schon meinen ersten Roman erzählte eine Frau. Das ist ja das Geschenk der Literatur: für einen Moment ein anderes Leben anprobieren.
Eine Besonderheit des Romans ist, dass er rückwärts erzählt ist: Wir lernen Amelia zu Beginn des Buches in den letzten Momenten ihres Lebens kennen – und folgen ihr dann rückwärts durch wichtige Stationen ihres Lebens. Wussten Sie von Beginn an, dass Sie die Geschichte auf diese Weise erzählen wollen? Und warum ist es gerade für diesen Stoff die zwingende Form?
Sich dem Leben eines Menschen rückwärts zu nähern, klingt künstlicher, als es ist. Eigentlich ist es das Normalste der Welt: Wir lernen jemanden kennen und erfahren zunächst von seiner oder ihrer Gegenwart. Je vertrauter wir werden, desto weiter nehmen wir uns gegenseitig mit in die Vergangenheit. Wir lernen allmählich die Geschichten und Erfahrungen hinter den Charakterzügen kennen – bis hin zu frühen Prägungen, die man nicht jedem erzählt. Manchmal nicht mal sich selber. Amelia Earhart konnte ein Lied davon singen.
Ebenso wichtig war mir aber, auf diese Weise die Heldinnengeschichte zu unterlaufen, die zu Earhart immer dazugehört: Erst hat sie dieses Abenteuer bestanden und dann jenes – und immer war sie dabei die Erste. All das kulminiert im unlösbaren Rätsel ihres Verschwindens. Diese Steigerungslogik wollte ich umdrehen und stattdessen Schicht für Schicht freilegen, wie sie wurde, wer sie war.
In wem erkennen Sie sich selbst am stärksten wieder – im Verleger oder in der Fliegerin?
Den Roman habe ich geschrieben, weil es beide darin gibt. George Putnam entstammte einer legendären Buchverleger-Dynastie, was auch nicht immer ganz leicht ist. Die Zeitgenossen witterten in seiner Ehe mit Amelia Earhart eher eine Geschäftsidee, eine Aufmerksamkeitsmasche, wie es sie ja auch heute noch zwischen Prominenten gibt. Da ist etwas dran – aber je tiefer ich in ihr Leben eingetaucht bin, desto unübersehbarer wurde, was die beiden auf ganz eigene, liebevolle, freie Weise verbindet.
Und Amelia ist einfach eine Wucht. Beim Schreiben war mir manchmal unerträglich, dass die Erfindung von Zeitmaschinen noch immer auf sich warten lässt. Wobei: Genau zu diesem Zweck gibt es ja Romane. Jedenfalls sind mir beide ans Herz gewachsen – er als Kollege, sie als Mensch.