Das Ende als Beginn des Abenteuers
Uta Gosmann zu ihrer Übersetzung von »Treue und edle Nacht«, dem neuen Gedichtband von Nobelpreisträgerin Louise Glück
Louise Glücks Treue und edle Nacht ist das Buch eines „Abenteuers“, so der Titel des zweiten Gedichts. Nicht eines Abenteuers im herkömmlichen Sinn, sondern des Abenteuers des eigenen Lebensendes, der ultimativen Reise ins Unbekannte, der letzten Einkehr in die Nacht. „Wenn es schon schwer ist anzufangen, wie soll es nur werden zu enden—“, heißt es im Titelgedicht. In der Frage schwingen nicht nur Unglauben und Resignation mit, sondern auch die Aufforderung, weiterzudenken, sich das Ende auszumalen. Wer das Abenteuer zusammen mit der Dichterin wagt, erhält keine einfachen Antworten, wird aber mit dem Erleben der „treuen und edlen Nacht“ belohnt. Von der Nacht „umfangen“ zu werden, in ihr zu „schweben“, sie über sich „wirbeln“ zu lassen, erweitert das Sein, macht „Denken ... grenzenlos“.
Das amerikanische Original erschien 2014 und erhielt den National Book Award for Poetry. Nur zwei Jahre zuvor war eine Gesamtausgabe der bisherigen Gedichte veröffentlicht worden. Glück hält nicht lange Rückschau, sondern drängt weiter. Die Fähigkeit, das eigene Schaffen in jedem Buch zu erneuern, ist für diese Dichterin bezeichnend. In Treue und edle Nacht investiert sie weniger in persönlich-biographische Elemente, die in frühen Büchern wie Descending Figure (1980) und Ararat (1990) dominieren und die in Meadowlands (1996) und Averno (2009) mit einer mythologischen Dimension verflochten werden, noch hat das Buch den überindividuellen, gemeinschaftlichen Tenor seines Vorgängers A Village Life (2009). Vielmehr steht ein Paradox, ein Rätsel oder Widerspruch, im Zentrum dieser Gedichte. Glück nennt die absurde Kurzprosa Franz Kafkas als wichtigen Einfluss.
Wie ein Echo von Kafkas Erzählung „Über die Gleichnisse“, dem ersten Stück in der klassischen zweisprachigen Ausgabe Parables and Paradoxes (Schocken 1961), ist Glücks erstes Gedicht mit „Ein Gleichnis“ überschrieben. Bei Kafka diskutieren zwei namenlose Personen, „einer“ und „ein anderer“, den paradoxen Anspruch des Gleichnisses, praktischen Nutzen zu haben. In Glücks Gedicht besprechen zwei Gruppen, die Wanderer und die Pilger, die Details einer Reise, zu der sie nie aufbrechen werden (auch wenn in nachfolgenden Gedichten zu Pferd, im Zug, Ausflugsboot, Flugzeug und zu Fuß gereist wird). Wie bei Kafka lässt sich auch bei Glück sprachliche Symbolik nicht in konkrete Handlung übertragen.
Andere Gedichte entfalten dieses Paradox: In „Utopie“ wartet ein Mädchen mit festgeflochtenen Zöpfen ängstlich auf den herannahenden Zug, der sie zur ihrer (womöglich bereits verstorbenen) Großmutter bringen soll. Als sie einsteigt, wird die Utopie zur Dystopie, denn sie tut es „ohne ein Wort“ und umfangen von den grauenhaften Lauten des Zuges. Liest man dieses Gedicht als Fortsetzung des vorangehenden, wo ein Zug die „Endstation“ erreicht und die Hoffnung auf Weiterfahrt enttäuscht, ist die Zugfahrt das Symbol eines Auswegs; doch der Preis des Auswegs ist der Zerfall der Sprache selbst. Entweder kann sprachliche Symbolik nicht in Handlung umgesetzt werden oder Handlung nicht in sprachliche Symbolik. Auch in „Pferd und Reiter“ suggeriert die Sprache eine unmögliche Lösung. Die beiden kommen zusammen in eine fremde Stadt, wo sich zu ihrer Begrüßung die Menschen in den Straßen drängen. Das Pferd schlägt dem Reiter vor, es zurückzulassen, damit er sich besser bewegen könne, doch der Reiter erwidert, dass er sich nicht trennen könne, weil er nicht wisse, welcher Teil von ihm das Pferd sei. Das Bild von Pferd und Reiter, das symbolisch auf Körper und Seele deuten mag, legt eine Zweiteilung nahe, die sich als irreführend offenbart.
Glück zeigt, wie Sprache unsere Wirklichkeit gestaltet und organisiert. Sie zeigt uns auch, dass diese Gestaltung eine künstliche ist. Doch das Auseinanderklaffen von Symbolik und Realität ist kein Grund zur Resignation. Im Gegenteil: Wo Sprache Wirklichkeit unzureichend oder fehlerhaft strukturiert, offenbart sich eine größere Wirklichkeit, eine weiträumige Nacht. Auch das ist Teil des Abenteuers. Unglück ist nur, wenn die Worte „im Nebel versinken“, sich der Dichterin verweigern; eine Gefahr, die sich motivisch durch das Buch zieht.
Formal unterscheidet sich dieses Buch von anderen Bänden Glücks durch den Wechsel von kurzen Prosagedichten und längeren Versgedichten. In den Prosagedichten wird ein Paradox oder Widerspruch ausgearbeitet, wie bei Kafka oft in Form eines Zwiegesprächs. Die Versgedichte sind zumeist in dramatic monologue verfasst, einer in der angloamerikanischen Literatur verbreiteten lyrischen Form, in der eine spezifische Figur oder Person als lyrisches Ich spricht. So lässt sich die Identität des Ichs von der Lyrikerin lösen und spielerisch, als Teil des imaginativen Abenteuers, mit einem Ritter (im englischen Titel klingt er im Homophon von night und knight mit an), einem alternden Maler oder einem Kind variieren.
Obwohl es sich unterschiedlicher Figuren bedient, spricht das Ich gleichmäßig, geduldig, forschend, in ununterbrochenem Fluss. Auf subtile Art und Weise moduliert es Ton und Affekt, bewegt sich fast unmerklich von einer Stimmung zur nächsten. Die jeweilige Stimmung ist nicht immer leicht zu fassen; auch dies ist Teil des Abenteuers. „Der melancholische Assistent“ z.B. ist der Inbegriff rätselhaften Affekts. Mal spricht das Ich wie über eine „wirkliche“ Situation, mal wie in einem Traum; mal präsentiert es nüchterne Wahrnehmungen und schonungslose Einsichten, mal äußert es sich mit der Weisheit eines Kindes. Nach wahrhaftiger Aussage suchend, zögert, hinterfragt und korrigiert es. Es entwickelt seine Aussagen, das Abenteuer seines Sprechens, in der Einheit der Zeile. Oft wird der Zeilensprung verwendet, um einen Gedanken in eine unerwartete Richtung zu lenken. Die Übersetzung behält diese Einheiten, dieses Sprechgewebe in der Zeit, nach Möglichkeit bei.
Ein Affekt, der sich bei aller Modulation verlässlich durchs Buch zieht, ist Glücks trockener Humor, so trocken, man muss beim Durchwaten der fekunden Böden dieser lyrischen Abenteuer genau hinfühlen, um ihn untergründig zu bemerken. Wenn in mehreren Gedichten der Held beim Übergang ins Reich der Toten von freudig winkenden Menschenmengen begrüßt wird, spürt man ironisiertes Wunschdenken. Sicherlich erklärt sich der Enthusiasmus der Toten (ein Oxymoron) dadurch, dass man in der „neuen Welt“, wo es „nichts gibt“ und „nichts passiert“, für jede Abwechslung dankbar ist. Doch auch für die Lebenden zahlt sich das Sterben aus, denn im Diesseits wurden sie ja doch nur von schimpfenden toten Eltern aus dem Schlaf geklingelt („Besuch aus der Fremde“). Und für die Künstlerseele, denkt man an die beiden erfolgshungrigen Rivalen in „Das Schwert im Stein“, ist der Applaus ein lang ersehnter Balsam.
Wenn Glück ihre Gedichte rezitiert, wird der hypnotische Effekt, den sie durch ihre fließende, ebenmäßige, geradezu entdifferenzierende Intonation verstärkt, besonders deutlich. Um diesen Effekt auch im Deutschen zu ermöglichen, braucht es kompakte Wörter, Prägnanz im Ausdruck, rhythmischen Fluss und klangliche Resonanz. Lautliche Wiederholungen (Assonanzen, unreine Reime, gelegentliche reine Reime) haben beruhigende, vertiefende, entgrenzende Wirkung—vielleicht wie das Eintauchen in die „treue und edle Nacht“.
Es ist dem Englischen möglich, zugänglich und ungekünstelt zu sein, ohne einen gehobenen Ton einzubüßen. Diese Kombination, im Deutschen vielleicht etwas ungewöhnlicher, strebt auch die Übersetzung an. Glücks Sprache ist schlicht, nicht weil sie alltäglich ist, sondern weil sie wie die Sprache des Gleichnisses oder des Traumes verdichtet, symbolisch reduziert, und verfeinert ist. Die Schlichtheit ist außerdem Grundlage für die Gestaltung des besonderen Glückschen Tons.
In Übersetzungsseminaren wird häufig das Experiment durchgeführt, den Teilnehmer*innen Original und Übersetzung vorzulegen, ohne sie zu identifizieren. Und stets halten sie die Übersetzung für das Original und umgekehrt das Original für die Übersetzung. Dieses Missverständnis hat wohl damit zu tun, dass das Original seltsamer, bizarrer, mit Ecken und Kanten versehen ist, die Übersetzung aber in ihrem Bewusstsein, Übersetzung zu sein, dazu neigt, diese einzuebnen. Ich hoffe, Gedichte geschaffen zu haben, die sich im Deutschen unbefangen entfalten, ohne das Fremde oder Eigenartige der originalen lyrischen Abenteuer—denn eigenartig sind sie!—einzubüßen.
Elsa Antolin