Aktuelles | 11.03.2024 | Manesse

Bücher von Manesse – wie Wein im Barrique-Fass ausgebaut

v.l.n.r.: Regina Moths, Horst Lauinger, Tanja Graf, Marion Bösker-von Paucker

Verleger Horst Lauinger zu Gast im Münchner Literaturhaus

Manesse – das ist der »letzte sortenreine Klassikerverlag«, schrieb kürzlich die Süddeutsche Zeitung. Dr. Horst Lauinger ist seit 2000 sein Gesicht und seine Herzkammer. In der letzten Woche war er auf Einladung der »Freunde & Förderer« zu Gast im Münchner Literaturhaus.

Horst Lauinger und Tanja Graf

Das Foyer im obersten Stock ist voll besetzt. Auf dem Podium: Tanja Graf, Leiterin des Literaturhauses, und Horst Lauinger. Im Hintergrund die hellgelb leuchtende Silhouette der Theatinerkirche im Abendlicht. Neben dem Podium ein Büchertisch mit den bibliophilen Manesse-Ausgaben und einem beeindruckenden Blumenstrauß – präsentiert von Buchhändlerin Regina Moths, einer Institution der Münchner Literaturszene und aktuell Jury-Mitglied des Deutschen Buchpreises. Das Gespräch beginnt mit einer Tour durch die Verlagsgeschichte. 1944 in Zürich gegründet, ging es bei Manesse von Anfang an um den Anspruch, eine »Bibliothek der Weltliteratur« zu schaffen. Die gleichnamige Reihe bildete das Kernstück des Verlags. Über die Jahre entstanden viele hundert in Leinen gebundene Bände im Taschenformat. Mittlerweile veröffentlicht der Verlag neben der jahrzehntealten und vor ein paar Jahren neu gestalteten Reihe Solitäre. Illustrierte Prachtausgaben oder besondere Anthologien. So wie die von Sandra Kegel herausgegebenen »Prosaischen Passionen«, einer Anthologie mit 101 Erzählungen von Autorinnen der literarischen Moderne aus allen Ecken der Welt. »Ein Muss für jede und jeden!«, betonte Tanja Graf. Vieles ist erstmals, das meiste neu übersetzt aus 25 Weltsprachen. Es ist das erste Panorama moderner Literatur von Frauen. Aber zugleich auch ein umfassender und repräsentativer Gegenkanon zu dem, was bislang als kanonisierte Weltliteratur der Moderne galt. Die war ziemlich männlich und eurozentristisch geprägt. »Bezeichnend«, so Horst Lauinger, »dass zwischen 1966 und 1992 nicht eine einzige Frau den Literaturnobelpreis erhielt.«  An der Literatur von Frauen, die damals überall auf der Welt entstand, lag es jedenfalls nicht.

Horst Lauinger, Tanja Graf, Regina Moths

Neben den editorischen Ambitionen geht es bei Manesse immer auch um Ausstattung und Gestaltung. Wo ließe sich die besser demonstrieren als bei den Prachtausgaben der »Odyssee« oder der »Ilias« mit eigens angefertigten Kunstillustrationen oder dem berühmten »Kopfkissenbuch« der Sei Shōnagon. Die fast 1000 Jahre alte Tagebuch-Prosa einer selbstbewussten jungen Frau am Hof des japanischen Kaisers erschien vor sieben Jahren in einer Luxusausgabe mit Schmuckschuber erstmals vollständig auf Deutsch und ist neben zwei weiteren günstigeren Varianten bis heute lieferbar. Regina Moths ist zur Stelle und präsentiert hier und auch an anderen Momenten des Abends die besonderen Ausgaben fürs Publikum.

Wann sind Neuübersetzungen bekannter Stoffe nötig und sinnvoll? Lauinger zitiert Katharina Hagena:»Eine Übersetzung ist wie das Tuch über einer Skulptur.« Ist es aus Leinen, kann man nur grobe Formen erahnen. Manche Tücher werden brüchig mit der Zeit. Dantes »Göttliche Komödie« wurde seit dem 18. Jahrhundert insgesamt 54-mal ins Deutsche übersetzt. Die 55igste erscheint jetzt im Herbst bei Manesse. Warum? Weil jede Übersetzung nur eine mehr oder weniger gelungene Annäherung ans Original ist und weil Übersetzungen schneller altern als das Original, antwortet Lauinger. Es hat aber auch mit den Usancen zu tun, wie man sich früher dem Originaltext näherte. Bis in die 70er des letzten Jahrhunderts wurde geschönt, gekürzt, klassisch aufgemöbelt oder gar zensiert. So wurde zum Beispiel in Emile Zolas »Germinal« aus einem abgeschlagenen Penis ein abgeschlagener Finger, vermutlich wollte man das seinerzeit einer deutschen Leserschaft nicht zumuten. Dann kam der Paradigmenwechsel hin zu mehr Authentizität. Das Werk sollte so originalgetreu wie möglich übersetzt werden, aber dennoch verständlich bleiben. Wie überträgt man sprachliche Besonderheiten eines Dante des frühen 14. Jahrhunderts in ein heute verständliches Deutsch? Auf diese Fragen wissen nur versierte und mit tiefem literaturhistorischem Wissen ausgerüstete Übersetzerinnen und Übersetzer eine Antwort. Deren schöpferische und kulturvermittelnde Leistungen sind nicht hoch genug einzuschätzen.

Maud Martha

Und wie geht man bei Manesse mit rassistischen Begriffen, wie zum Beispiel dem N-Wort bei Klassikern um?, fragt jemand aus dem Publikum. Sensitivity Reading bei Klassikern der Weltliteratur? Horst Lauinger erzählt von einem Briefwechsel mit einer Leserin, die wissen wollte, warum in Tanja Blixens »Jenseits von Afrika« mehrfach das N-Wort benutzt wird. Ihrer Nichte wollte sie das Buch nur schenken, wenn sie darauf eine schlüssige Antwort des Verlags liefern könne. Und die geht so: Tanja Blixen war eine großartige Autorin, aber eben auch eine Kolonialistin mit entsprechender Weltanschauung. Würde man das N-Wort ersetzen, verfälschte es den Text und damit auch das Bild, das sich heutige Leserinnen und Leser von dieser Autorin machen können. In »Maud Martha« wiederum, einem Roman der ersten schwarzen Pulitzer-Preisträgerin Gwendolyn Brooks, dient das N-Wort in der Figurenrede der Charakterisierung von Rassisten. Auch hier wurde in Absprache mit den Erben entschieden, in der Übersetzung nichts zu kaschieren. Aber ganz wichtig ist es Horst Lauinger in solchen Fällen, die Verwendung problematischer Begriffe in einer editorischen Notiz zu erklären und zu kontextualisieren.

Apologie des Sokrates

Ein wichtiges Merkmal der Manesse-Bücher sind die erläuternden Nachworte. Auf die richtige Passung kommt es hier an. Häufig sind es Autorinnen oder Autoren, die ein völlig neues Licht auf einen Text werfen können, so wie Ingo Schulzes Nachwort zu John Steinbecks Roman »Der Winter unseres Missvergnügens«. Manchmal sind es aber auch Personen des öffentlichen Lebens. Im letzten Jahr erschien Platons »Apologie des Sokrates« in Neuübersetzung von Kurt Steinmann. Ein moralisch-politischer Grundtext der Demokratie. Das Nachwort schrieb Otto Schily, einst Verteidiger von RAF-Terroristen, später hart durchgreifender Innenminister. Und ein klassischer Bildungsbürger.

Literatur aus fernen Zeiten oder Welten erzählt uns mehr über uns, als wir glauben. Das kann manchmal eine ziemliche Zumutung sein. Doch in Zeiten, in denen Literatur immer häufiger nur noch entlang von Wohlfühlkriterien entsteht, ist es vielleicht eine wohltuende Zumutung. »Politik packt die Affekte, Kunst erzieht sie.« Dieses Zitat von Robert Musil fasst es für Horst Lauinger gut zusammen. Populisten und soziale Medien zielen auf die Emotionen und instrumentalisieren sie für ihre eigenen Zwecke. Kunst und Literatur sind frei davon. Sie führen uns Affekte und Emotionen vor, eigene wie fremde, und sie erziehen uns zu Empathie und Verständnis. Das ist das Schöne und zugleich Unverzichtbare an ihnen.

Der Abend klingt aus mit der Theatinerkirche im Flutlicht. Das Publikum steht Schlange am Büchertisch, der sich rasch leert. Marion Bösker-von Paucker, Geschäftsführerin des Freundeskreises, hat die Verlagsbesuche-Reihe vor über zehn Jahren ins Leben gerufen und freut sich, dass diese Reihe nach einer längeren Corona-Pause eine solch gelungene Wiederaufnahme fand.

 

Text: Markus Desaga

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