Liebe Katherine, Sie sind mit Ihren historischen Romanen seit Jahren sehr erfolgreich. Was hat Sie dazu veranlasst, jetzt einen Krimi zu schreiben?
Ich glaube, die Idee für einen Krimi hat sich schon seit Langem ganz allmählich entwickelt. Meine Bücher hatten im Kern immer ein starkes mysteriöses Element. Die Schuld jenes Sommers ist im Grunde ein historischer Krimi – ein Cold Case, um genau zu sein. Ich trug schon länger eine Idee für eine Geschichte mit mir herum, die ich eigentlich in einem historischen Roman verarbeiten wollte. Während des ersten Lockdowns 2020 wurde mir aber klar, dass diese Idee viel besser für eine Krimihandlung geeignet wäre. Ich hatte keine Ahnung, ob ich in einem anderen Genre überhaupt gut schreiben könnte, deshalb war die ganze Sache eher ein Experiment: Ich stand beim Schreiben nicht unter Druck, und ich dachte überhaupt nicht über die Veröffentlichung nach. Ich habe die Geschichte fast nur so zum Spaß geschrieben. Und es hat mir enorme Freude bereitet.
Was war zuerst da: Die Figuren oder das Verbrechen?
Normalerweise entstehen Figuren und Ausgassituation bei mir gleichzeitig. Aber in diesem Fall hatte ich vor allen anderen Details zuerst die Skizze einer Handlung – eines Verbrechens. In dieser Phase wusste ich noch nicht, wer die Figuren sein würden. Aber sobald die Entscheidung gefallen war, einen Krimi daraus zu machen, war es ein Riesenspaß, meinen Ermittler DI Matthew Lockyer kennenzulernen und er rückte sehr schnell in den Mittelpunkt. Ich hatte das Gefühl, ihn schon sehr lange zu kennen. Und ich mochte ihn natürlich auf Anhieb.
Wie kamen Sie auf die Figur von DI Lockyer?
Wenn ich das nur wüsste! Es kam mir so vor, als wäre er als ausgereifte Figur plötzlich in meinem Kopf aufgetaucht. Ich wollte, dass er gut mit der Landschaft von Wiltshire zusammenpasst, also nicht ein besonders kosmopolitischer Typ ist. Er ist eben ein Mann aus Wiltshire, der Sohn eines Landwirts. Anständig und klug, aber keineswegs ausgebufft oder außerordentlich kultiviert. Er hört sich Podcasts an, liest viel und versucht, sich weiterzubilden. In seinem Leben hat er bereits einen Trauerfall verwinden und Verlust erfahren müssen. Er ist ein Einzelgänger, ein introvertierter Mensch und zufrieden, wenn er alleine ist – auch wenn er manchmal erkennt, dass sein Privatleben ein wenig leer ist. Ich finde es wichtig, dass man beim Lesen versteht, was einen Ermittler so einzigartig macht, weshalb nur er ein Verbrechen aufklären kann, an dem andere zuvor gescheitert sind. In Lockyers Fall ist es seine Fähigkeit, zu reflektieren, sich in Menschen hineinzuversetzen und zwischen den Zeilen ihrer Aussagen zu lesen. Er versteht die Psychologie der Personen, denen er begegnet.
Haben Sie beim Schreiben von "Der Tote von Wiltshire" an die Klassiker der Kriminalliteratur gedacht?
Nein, an keinen … oder vielleicht doch an alle! Zumindest habe ich an keine*n spezielle*n Autor*in oder eine konkrete Figur gedacht. Aber es gibt bestimmte Merkmale von Kriminalliteratur, die gewissermaßen zur altbewährten Tradition geworden sind. Ich wollte das Rad nicht neu erfinden, sondern vielmehr ein Buch schreiben, das ich als „klassischen Krimi“ bezeichnen würde: einen Krimi mit einem stimmungsvollen Setting und fesselnden Charakteren, der den Leser bis zum Schluss im Dunkeln lässt.
Worin unterscheidet sich die Arbeit an einem Krimi und einem historischen Roman? Laufen Recherche und das Schreiben anders ab?
Bei "Der Tote von Wiltshire" war die Recherche auf den ersten Blick viel einfacher zu bewältigen. Der Roman spielt im ländlichen Wiltshire, in der Hochebene von Salisbury, wo ich aufgewachsen bin und heute lebe. Außerdem spielt er in der Gegenwart, was das Schreiben natürlich in vielerlei Hinsicht einfacher macht. Die Recherche über die Polizei und ihre Methoden war da schon schwieriger. Zum Glück wohnen ein paar Polizisten im selben Dorf wie ich, einschließlich eines Mordermittlers. Ich habe gelernt, dass moderne Methoden der Polizeiarbeit, wenn man sie genau beschreibt, einen unglaublich langweiligen Roman ergeben würden. Die Vorstellung von der Partnerschaft eines Ermittlers mit einem etwas unerfahreneren Beamten, die gemeinsam losziehen, den Tatort besuchen, mit Zeugen sprechen, Leute befragen und den ganzen Fall zu zweit bearbeiten, ist seit über 25 Jahren vollkommen überholt. Aber ein solches Szenario eignet sich eben bestens, um eine rätselhafte Geschichte zu erzählen. Viele der modernen Ermittlungsmethoden musste ich einfach ignorieren! Am Anfang hat mich das sehr gestört, weil ich in meinen Romanen großen Wert auf Genauigkeit lege. Aber es hätte einfach nicht funktioniert. Das Schreiben selbst war dann gar nicht so anders als sonst. Und die Struktur der Geschichte – das Einstreuen von Hinweisen, die Verfolgung von Spuren, die Elemente der Irreführung – hatte ich bereits in meinen historischen Romanen ähnlich angelegt. Für den zweiten Roman mit DI Lockyer werde ich aber ausarbeiten, wie genau er den Fall lösen wird, bevor ich mich ans Schreiben mache. Das habe ich bei Der Tote von Wiltshire nämlich nicht getan, was mir manchmal ziemliches Kopfzerbrechen bereitet hat … Es ist wohl besser, bei einem Krimi die Beweislage im Voraus zu planen.
Wird es also einen weiteren Fall für DI Lockyer und DC Broad geben?
Keine Frage! Ich hoffe, es wird noch ganz viele Fälle geben …
Warum sollte es ausgerechnet in Cold Case sein?
Der Kriminalinspektor aus meinen Ort erklärte mir, dass ein Detective Inspector und ein Detective Constable allenfalls nur dann noch gemeinsam losziehen, Verdächtige befragen und wirklich selbst alle Beweise sammeln und auswerten, wenn sie an einem Cold Case arbeiten. Das kam mir gerade recht. Und es fügt der gegenwärtigen Geschichte eine Art Echo aus der Vergangenheit hinzu, was ich natürlich sehr liebe. So konnte ich den Nachwirkungen und langfristigen Folgen des Verbrechens, die ich so faszinierend finde, genauer auf den Grund gehen. Außerdem war es für mein Ermittlerduo somit schwieriger, all die verlorenen und vergessenen Hinweise zur Lösung des Falles auszugraben.
Lesen Sie selbst gerne Krimis?
Ich lese alles, aber ja: Ich liebe Krimis. Ich sehe sie auch gerne im Fernsehen. Um ehrlich zu sein, eigentlich sehe ich ausschließlich Krimis im Fernsehen. Und ich liebe die alten BBCHörspieladaptionen von Agatha Christies Romanen, wenn ich spazieren gehe, im Garten arbeite oder den Hausputz erledige. Einige meiner Lieblingsautorinnen in diesem Genre sind Belinda Bauer, Susie Steiner, Gytha Lodge, Elly Griffiths.
Haben Sie einen Lieblingsdetektiv?
Als ich klein war, habe ich immer die Verfilmungen von Ruth Rendell mit meiner Mutter im Fernsehen angeguckt. Außerdem habe ich all ihre Bücher gelesen. Deshalb werde ich ihren Chief Inspector Wexford wohl immer besonders mögen. Schöne Erinnerungen habe ich außerdem an die Bücher von Colin Dexter um Inspector Morse – ich liebe auch die alte Fernsehserie dazu, die sie im TV ab und an wiederholen. Und Hercule Poirot ist einer meiner Lieblinge. Ich glaube sogar, dass er und DI Lockyer entfernte Verwandte sein könnten. Denn in Agatha Christies Das unvollendete Bild sagt eine der Figuren über Poirot, dass er als Detektiv vor allem an der Psychologie eines Verbrechens interessiert sei: am Motiv und an der Denkweise des Mörders.
Wieso sind ausgerechnet Krimigeschichten, die in England spielen, so beliebt?
Da bin ich mir nicht sicher. Vielleicht hat es mit der Atmosphäre unserer Landschaft zu tun, mit unseren idyllischen Dörfern und dem nicht gerade für seine Redseligkeit bekannten Naturell der Engländer. Zumindest nimmt man uns ja häufig so wahr: als ein eher ruhiges, sehr höfliches Völkchen, das es perfekt versteht, ein Geheimnis für sich zu bewahren. Außerdem ist es immer amüsant, mit den Überbleibseln der starren britischen Klassenstruktur zu spielen, sowohl im Krimi als auch in der Literatur im Allgemeinen. In England gibt es zudem eine sehr ausgeprägte Tradition der Kriminalliteratur. Es ist für mich ein schönes Gefühl, ein kleines Blatt an einem so großartigen und erhabenen Stammbaum zu sein.
Was hat Sie an der Figur Gemma Broad besonders interessiert?
Ich liebe Gemma Broad! Sie ist eher schüchtern, ist weder schön noch glamourös und schweigt manchmal, obwohl sie die Antwort weiß … Wie so viele Frauen da draußen. Es gibt so viele brillante Menschen wie sie in der Welt, die übersehen werden, weil die lauteren Leute einfach kräftiger schreien. Sie ist klug, ehrlich und ehrgeizig, aber nicht nur um des Ehrgeizes willen. Sie möchte einen guten Job machen und eine gute Ermittlerin sein. Es macht riesigen Spaß, Gemma zu schreiben, denn es gibt so viel Raum, um zu zeigen, wie sie wächst, sowohl hinsichtlich ihrer Fähigkeiten als auch in ihrem Selbstvertrauen. Oft sagt sie das Falsche, was ihr dann peinlich ist … darin sind wir uns sehr ähnlich.
Beschreiben Sie uns doch ein wenig das Verhältnis und die Zusammenarbeit der beiden Ermittler Lockyer und Broad!
Lockyer und Broad arbeiten sehr gut miteinander, weil sie beide gewissenhafte, umsichtige Charaktere sind, die mit Bedacht vorgehen. Sie interessieren sich für die Menschen und sie nehmen keine Abkürzung, nur um es sich einfacher zu machen. Stattdessen bleiben sie so lange am Ball, bis sie das richtige Ergebnis haben. Ich wollte, dass Lockyer, der ungefähr achtzehn Jahre älter ist als Gemma, für sie ein guter Mentor ist, jemand, der sie respektiert und sie dabei unterstützt, ihr Selbstvertrauen zu stärken. Lockyer ist wegen einer Art Strafversetzung bei den Cold Cases gelandet, nachdem es Ärger mit einem Kollegen gegeben hat. Und er fürchtet nun, dass Gemma gemeinsam mit ihm in einer Sackgasse steckt. Er selbst kommt vollkommen damit klar, nicht befördert zu werden, aber er will nicht der Hemmschuh für Gemma sein. Außerdem liegt es auf der Hand, dass zwei Leute, die so eng zusammenarbeiten, irgendwann auch ihre Gefühle füreinander entdecken könnten …
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