Erst einmal Prost! Wir sitzen mit einem Bier vor dem Bildschirm. In normalen Zeiten hätten wir uns in einer Kneipe treffen können. Was würden eure Nachtgestalten während des Corona-Lockdowns machen?
Rudis: Das würde sie traurig machen aber sie würden mit Sicherheit Bier kaufen.
Mahler: Oder Wein trinken.
Rudiš: Ja, schrecklich, der Lockdown hat aus mir auch einen Weintrinker gemacht. Es geht vielen Biertrinkern so. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Nachtgestalten mit zwei Flaschen Bier losziehen würden. Oder mit zwei Flaschen Wein. Was meinst du, Nicolas?
Mahler: Ich bin mir nicht so sicher. Ich habe zum Beispiel einen Freund, den kriege ich nicht zum Spaziergehen. Eigentlich will er nur Auto fahren und das ist natürlich mit Alkohol schwierig.
Rudiš: Ja, manchmal ist es schwer. Auch bei den Nachtgestalten würde der Eine mehr unter dem Lockdown leiden und sich in seine Geschichten verkriechen. Der Andere würde all seine Kraft einsetzen, um ihn aus der mit Geschichtsbüchern vollgestopften Wohnung herauszuzerren und ihn auf einen Spaziergang zu überreden.
Wie kam es überhaupt dazu, dass ihr gemeinsam die Graphic Novel herausgebracht habt?
Rudiš: Ich fahre oft über Wien. Wien ist sozusagen mein Umsteigebahnhof. Dort treffe ich mich immer mit Nicolas im „Steman“ oder im „Rüdigerhof“ und wir essen gemeinsam Schnitzel und trinken böhmisches Bier dazu. An einem Abend, nach ungefähr sechs Budweiser vom Fass, haben wir gesagt: Lass uns etwas zusammen machen.
Und war die Idee von den zwei Prager Nachtgestalten von Anfang an da?
Rudiš: Ich hatte tatsächlich mal eine kleine Erzählung mit dem Namen „Nachtgestalten“ geschrieben, die Nicolas gut fand. Wir haben dann gemeinsam mehrere Geschichten dazu erfunden. Ich bin jemand, der gerne und viel erzählt, mein Roman „Winterbergs letzte Reise“ ist über 500 Seiten lang. Gleichzeitig mag ich es sehr, wie reduziert Nicolas‘ Zeichnungen sind. Daher fand ich es super, dass er meinen Text nahm und radikal kürzte.
Mahler: Ausschlaggebend waren für mich die Dialoge, die ich richtig gut fand. Mich hat bei den Nachtgestalten auch angesprochen, dass es nur zwei Figuren sind. Da meine Zeichnungen sehr reduziert sind, ist es für mich am besten, wenn es einen kleinen Dicken und einen großen Dünnen gibt. Die kann man gut unterscheiden. Bei vier Protagonisten muss ich gleich mit den Frisuren arbeiten. So habe ich gar keine Frisuren gebraucht.
Wie kann man sich eure Zusammenarbeit vorstellen? Was entsteht zuerst – Text oder Zeichnung?
Rudiš: Ich hatte Nicolas mehrere Geschichten mit einem wiederkehrenden Grundgedanken geschickt: Zwei Freunde gehen durch die Prager Nacht von Gasthaus zu Gasthaus und erzählen sich kleine private Geschichten. Dabei kommt immer wieder die ganz große Geschichte zum Vorschein. Nicolas hat ziemlich schnell die ersten Zeichnungen angefertigt und ich dachte: Wow, das hat er wirklich perfekt getroffen! Kein Theaterstück, kein Roman könnte das so gut einfangen wie eine Graphic Novel mit Nicolas.
Nicolas, du beschäftigst dich oft mit der Welt der Literatur, mit Thomas Bernhard oder Robert Musil. Jaroslav, du hast mit „Alois Nebel“ zusammen mit dem tschechischen Zeichner Jaromír 99 ebenfalls schon eine Graphic Novel herausgebracht. Was reizt euch an der „Symbiose“ von Literatur und Comic?
Mahler: Schwierige Frage… Ich könnte sagen, weil ich selbst so schlecht schreibe.
Rudiš: Und ich kann nicht zeichnen! Wo wir uns treffen ist Wien und die Welt der mitteleuropäischen Literatur, die Nicolas immer wieder in seinen Comics porträtiert. Seine „Alten Meister“ zum Beispiel finde ich großartig! Die Gradwanderung zwischen Groteske und Tragödie, das verbindet uns – und davon leben auch die Nachtgestalten.
Nicolas, kann es sein, dass Jaroslav dein erster lebender Autor ist?
Mahler: Da müsste ich jetzt überlegen…. Nein, Elfriede Jelinek lebt auch noch! Bei ihr war jedoch der Text schon längst veröffentlicht, und das macht doch einen Unterschied. Wenn der Schriftsteller sich nicht mehr wehren kann, ist das natürlich einfacher. Aber wir sind bei den Nachtgestalten so auf einer gemeinsamen Wellenlänge gewesen, dass keiner irgendetwas durchsetzen musste, was der andere nicht wollte.
Eure Nachtgestalten sinnieren über die Tragik des Lebens und scheinen sich über die Absurdität des Daseins gleichzeitig zu amüsieren. Wie wichtig ist euch Humor?
Rudiš: Humor ist für mich Lebensrettung. Meine Geschichten sind oft traurig, düster und abgründig, aber letztendlich rettet der Humor die Helden immer vor dem Untergang.
Mahler: Ich glaube, das ist bei den Allermeisten so. Wenn man Menschen fragt, was sie beim eigenen Partner am meisten schätzten, kommt als Antwort fast immer Humor. Wobei Männer oft damit meinen, dass die Partnerin über ihre Witze lacht. Bei mir ist es so, dass ich im Endeffekt mein Leben damit verdiene, Witze zu machen und Cartoons zu zeichnen. Der Humor ist immer auch das Ziel meiner Arbeit. Nur traurig ist mir zu wenig. Traurig ist schön und gut, aber am besten ist es, wenn es schön traurig und lustig ist. Dann ist mir die Sache gelungen.
Kneipen, Bier und Selbstmitleid. Ist das besser als Yoga, Achtsamkeit und Selbstoptimierung?
Rudiš: Vielleicht ist das Selbstoptimierung auf böhmische Art.
Mahler: Ja, unsere Nachtgestalten tendieren zur Selbstzerstörung - aber mit Humor! Ich glaube, dieser Zugang ist ziemlich out, oder?
Rudiš: Ja, vielleicht ist es wieder an der Zeit, dass er zurückkommt.
Mahler: Lieber das, als Selbstzerstörung ohne Humor. Selbstzerstörung ohne Humor ist schlimm, da möchte man nicht dabei sein.
Könnten eure Nachtgestalten auch weiblich sein?
Rudiš: Hm, in der Tat waren alle meine Figuren in letzter Zeit männlich... Vielleicht hängt das damit zusammen, dass viele Dialoge aus den Nachtgestalten echt sind. Ich habe sie irgendwo in Gesprächen mit Freunden aufgeschnappt.
Mahler: Mit Frauen sprichst du nicht?
Rudiš: Doch, denen höre ich auch zu! In der „Nationalstraße“ gibt es zum Beispiel eine sehr starke Frauenfigur. Aber vielleicht fällt es mir leichter, über Männer zu schreiben.
Letztendlich ist euer Buch vor allem eine Hommage an die Kneipenkultur und an Männerfreundschaften, oder?
Rudiš: Absolut. Es ist eine Geschichte über eine lange und tiefe Freundschaft. Die beiden stehen zueinander und streiten auch manchmal. Es geht aber auch ums Zuhören. Heute steht der Individualismus sehr im Mittelpunkt: ICH lebe gesund, ICH mache Sport. Aber hier haben wir zwei Freunde, die zuhören.
Mahler: Ja, aber der eine kann sich den Namen der Freundin des anderen nicht merken.
Rudiš: Das stimmt auch wiederum.
Am Ende des Buches gibt es eine kleine, entlarvende Zeichnung…
Rudiš: Naja, wenn man sich da die Nachtgestalten ansieht, kann man schnell den kleinen Dicken und den großen Dünnen erkennen, diesmal auch mit Frisuren! Irgendwie sind es auch wir, die durch die Geschichte gehen.
Februar 2021. Das Gespräch führten Elsa Antolín und Madlen Reimer, Luchterhand Literaturverlag.
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