Aktuelles | 16.05.2023 | Goldmann

Anne Waak im Interview

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Gender Pay Gap, Sexismus, toxische Männlichkeit: Um unsere Gesellschaft gerechter zu machen, müssen wir bei den Kindern anfangen.

Feminismus und das Streben nach Geschlechtergerechtigkeit wird von einigen Männern als Bedrohung empfunden, als etwas, was Männern vermeintlich etwas wegnehmen möchte – in welchen Bereichen profitieren denn konkret Männer von mehr Geschlechtergerechtigkeit?

In allen! Es ist ja kein Geheimnis, dass Männer in Deutschland eine um etwa fünf Jahre kürzere Lebenserwartung haben als Frauen. Dem liegt zugrunde, was heute als toxische Männlichkeit bezeichnet wird, also Stoizismus, männliches Dominanzgehabe, die Neigung zu Gewalt und Sucht. Diese Faktoren haben ganz erhebliche Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit – auf die der Männer selbst, aber eben auch auf alle anderen Menschen, mit denen diese Männer ihr Leben verbringen, wie Ehefrauen oder Kinder. Davon abgesehen entstehen dadurch enorme öffentliche Kosten von jährlich 63 Milliarden Euro. Daher profitieren nicht nur die einzelnen Individuen, sondern auch die Gesellschaft als Gesamtheit von mehr Geschlechtergerechtigkeit.

Ein anderer Bereich ist das Familienleben. Es setzt sich zum Glück inzwischen die Erkenntnis durch, dass Männer, die keinen Zugang zu ihren eigenen Gefühlen haben, ihren Kindern keinen adäquaten Umgang mit Emotionen wie Trauer, Wut, Unsicherheit und Verletzlichkeit vermitteln können und dass das selbstverständlich Folgen für die Entwicklung dieser Kinder hat. Ein Mann, der Probleme hat, seine eigenen Gefühlsregungen wahrzunehmen und zu äußern, kann auch keine gute Beziehung zu anderen Personen aufbauen und führen – sei es zu einer Partnerin, zu Kindern oder anderen Menschen. Das ist für alle Beteiligten ein großer Verlust und häufig mit viel Schmerz verbunden.

 

Sie schreiben „Die Zweiteilung der Welt in eine weibliche und eine männliche Sphäre zementiert herrschende Ungerechtigkeit und beraubt Mädchen, Jungen und alle anderen der Gestaltungsmöglichkeiten für ihr eigenes Leben”. Wo zeigt sich das?

Das hat viele Facetten, die über die naheliegenden Einschränkungen in der Spielzeug-, Kleider- und Hobbywahl hinausgehen. Ein Aspekt mit weitreichenden persönlichen und gesellschaftlichen Folgen ist die Tatsache, dass Eltern und andere Sorgetragende weibliche Babys viel länger schreien lassen als männliche. Das setzt sich fort in einer deutlich früheren Verantwortungsübertragung auf Mädchen. Von ihnen wird viel häufiger und schon in jüngeren Jahren erwartet, dass sie sich etwa um jüngere Geschwisterkinder kümmern, im Haushalt helfen oder für erwachsene Familienmitglieder emotional verfügbar sind. Aus diesem frühen Versorgungsentzug resultiert häufig ein Mangel, den Mädchen und junge Frauen dadurch zu kompensieren versuchen, dass sie sich über die Maßen für andere einsetzen und Emotions-, Sorgearbeit und Beziehungsarbeit übernehmen. Das wiederum führt dazu, dass die überwiegende Mehrheit an Erziehungspersonen in Kitas und an Schulen Frauen sind, und dass auch die Sorgearbeit in Familien in den meisten Familien immer noch hauptsächlich von Frauen übernommen wird. Wer aus einem Verantwortungsgefühl oder dem eigenen Anspruch heraus ständig für andere da ist, brennt leichter aus als Menschen, die gelernt haben, sich um ihrer eigenen Gesundheit willen abzugrenzen. Das ist ein sich selbst verstärkender Kreislauf, der aus der Zweiteilung und der Ungleichbehandlung der Geschlechter resultiert.

In der gesellschaftlichen Diskussion wird ein solches Verhalten jedoch häufig naturalisiert und behauptet, es läge in der Natur der Frauen. Dieser landläufige Sexismus begegnet einem überall. Und Vorurteile haben leider die Tendenz, sich zu verstärken. Immer, wenn wir etwas sehen, was uns bekannt vorkommt, glauben wir „Die Frau macht das, weil sie eine Frau ist” oder „Der Mann macht das, weil Männer eben so sind”. So etwas zahlt nur auf schon vorhandene Vorurteile ein, wohingegen wir in ganz vielen anderen Fällen, in denen ein Vorurteil unterlaufen wird, eine Abweichung von der Normalität wahrnehmen.

Dazu kommt: Wer sich viele Jahre um Kinder oder kranke und ältere Angehörige gekümmert hat, landet häufig in der Altersarmut. Frauen, die die in Deutschland üblichen drei Elternzeit Jahre genommen haben, haben bei einem Durchschnittsverdienst im Alter 69.000 Euro weniger Rente zur Verfügung. Das zeigt, wie frühkindliche Einflüsse sich durch das ganze Leben ziehen können.

 

Toxische Männlichkeits- und Weiblichkeitskulturen haben ihren Ursprung im Patriarchat und dieses ist wiederum tief mit dem Kapitalismus verwoben. Kann eine geschlechtergerechtere Erziehung ein ganzes System verändern? 

Haushalte, in denen die Sorge- und Erwerbsarbeit nicht entlang von Geschlechtergrenzen verteilt ist, bringen andere Kinder hervor. Kinder, die damit aufwachsen, dass auch ein Vater sich um Sorge und Nöte kümmert und auch die Mutter außerhalb des Zuhauses arbeitet, haben ein ganz anderes Bild davon, was für ihr Gender an Verhaltensweisen zulässig ist. Kinder imitieren, was sie zu Hause vorgelebt bekommen. Und wenn sich dieses Bild ändert, hat das natürlich auch Auswirkungen darauf, wie Arbeit organisiert und bewertet wird.

Es ist immer noch so, dass Männer große Probleme haben, Teilzeit zu arbeiten, weil davon ausgegangen wird, dass Männer bei der Arbeit unabkömmlich sind, wohingegen das für Frauen nicht zu gelten scheint. Dies wird sich ändern, wenn Kinder einmal in Machtpositionen sitzen, die das zu Hause anders erlebt haben. Dann kann sich auch die Vorstellung davon verändern, was als wertvolle Arbeit angesehen und entsprechend entlohnt wird. Es ist ja bekannt, dass die wichtigsten Jobs auf der Welt die am schlechtesten bezahlt sind: alle, die mit Fürsorge zu tun haben, sei es im Haushalt, in Kita und Schule, in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass dies die wirklich wichtigen Jobs sind – an dem Punkt standen wir ja 2020 schon mal, als es plötzlich um „Systemrelevanz” ging und klar wurde, das diese Jobs das gesellschaftliche Leben am Laufen halten, und nicht die Manager, die sich gegenseitig die Boni zuschieben – dann wird ein fundamentaler Wandel geschehen. Und im Angesicht des technischen Wandels durch Künstliche Intelligenz wird diese Entwicklung noch beschleunigt werden. Wenn viele heute gut bezahlte Jobs auf einmal überflüssig werden, weil eine KI sie erledigen kann, stellt sich nochmal die Frage ganz neu, für welche Arbeitsbereiche Menschen unentbehrlich sind – all jene nämlich, die ein Gegenüber aus Fleisch und Blut und mit Gefühlen erfordern. 

Dazu kommt: Jüngere Arbeitnehmende sagen ja heute schon, dass ihre Vorstellung von einem guten Leben nicht auf einer Konzernkarriere in Vollzeit basiert, die man möglichst schnell und geräuschlos absolviert. Offenbar bedeutet Glück nicht für alle, 60 oder 70 Stunden zu arbeiten, sondern gute Beziehungen zu anderen zu haben. Und gute Beziehungen, ob zu Kindern oder anderen Erwachsenen, hält man nicht durch Abwesenheit aufrecht.

 

Sie schreiben, dass sich mit der Geburt eines Kindes oft für die Frauen die Welt verengt – auch für diejenigen, die sich eigentlich in einer gleichberechtigten Partnerschaft wähnten. Warum ist das so?

Vielen Mädchen und jungen Frauen wird von dem Moment an, in dem sie auf die Welt kommen, immer und immer wieder vermittelt: „Du bist toll! Du bist ein Mädchen und du kannst alles schaffen, was du dir vornimmst!“. Dass dem aber nicht so ist, wird Frauen meist erst in dem Moment klar, in dem sie ein Kind bekommen. Dann kommen traditionelle Rollenbilder auf einmal stärker zum Tragen, als es sich die meisten vorher vorstellen konnten. Nachdem eine Frau neun Monate damit beschäftigt war, neues Leben in ihrem Körper zusammenzubauen, verlangt ein Baby nach der Geburt 24 Stunden Fürsorge von mindestens einer Person. Parallel will natürlich auch noch Geld verdient werden, was dann meistens der Mann übernimmt. Spätestens da merken viele Frauen, dass sie in dieser biologistischen Falle sitzen. Im Fall der Väter erlaubt es oft das eigene Bild von Männlichkeit – oder die Chefetage in vielen Unternehmen – nicht, mehr als maximal zwei Monate Elternzeit zu nehmen. Da gehen also häufig zwei moderne, emanzipierte Menschen ins Krankenhaus, heraus kommt eine nur geringfügig upgedatete 50er-Jahre-Familie. Das System lässt nach wie vor nur wenige Möglichkeiten zu, daraus auszubrechen. Umso wichtiger ist es, es im Umgang mit Kindern trotzdem unaufhörlich zu tun.

 

Geschlechtergerechte Erziehung fängt durch das Vorleben an. Aber niemand ist eine Insel, irgendwann gehen die Kinder in die Kita, in die Schule oder in den Sportverein und kommen dort natürlich auch mit starren Geschlechterrollen und einschränkenden Meinungen in Kontakt. Wie kann ich da als Elternteil gegensteuern?

Es ist enorm wichtig, sich mit Kindern darüber zu unterhalten, was sie beobachten und erleben. Eltern sollten herausfinden, warum ein Kind plötzlich glaubt, ein bestimmtes Verhalten sei nur entweder für Jungs oder Mädchen angemessen. Wenn man weiß, woher bestimmte Überzeugung stammen, kann man Gegenbeispiele aus dem Umfeld zu nennen: „Du weißt ja, dass bei uns der Papa viel lieber kocht als Mama, es kann also nicht stimmen, dass Frauen dafür zuständig sind, Essen zuzubereiten”. Wenn man erlebt, dass andere Erwachsene einem Kind geschlechtsspezifische Verhaltensweisen aufpressen wollen, hilft es, das freundlich, aber bestimmt zu hinterfragen: „Warum tust du das?” Es gilt, sich auch selbst zu vergegenwärtigen, dass bei allen Verhaltensweisen, die Kinder an den Tag legen, die Varianz zwischen einzelnen Charakteren viel größer ist als die zwischen den Geschlechtern. Dafür gilt es den Blick zu schärfen – auch dafür, dass es Menschen gibt, die sich weder klar als Junge bzw. Mann oder Mädchen respektive Frau identifizieren.

 

Wie kann man sich im Umgang mit Kindern auch selbst hinterfragen, um nicht unbewusst verinnerlichte Vorurteile weiterzugeben?

Eine einfache Maßnahme besteht darin, gegenüber Kindern nicht ständig die Existenz von hier Jungs und da Mädchen zu betonen. Wenn ich zum Beispiel sage: „Schau mal, wie hoch das Mädchen da schaukelt“, zementiere ich damit nur die Vorstellung, das Geschlecht sei eine besonders wichtige menschliche Kategorie. Es handelt sich um ein Kind, und gut ist.

 

Schon im Untertitel Ihres Buches heißt es, dass Geschlechtergerechtigkeit uns alle freier macht. Ein Großteil der Menschen hat aber nun jahrhundertelang gelernt, sich über weiblich oder männlich gelesene Verhaltensweisen zu identifizieren. Wenn das auf einmal wegfällt: Kommt vor der Freiheit erst mal die Verunsicherung?

Die Diskussion über die neuen Väter oder darüber, dass es ein neues Vaterbild geben muss, resultiert zumindest in der öffentlichen Diskussion durchaus aus einer Irritation. Ich habe das auch häufig in meinem Umfeld bereits zu Studienzeiten erlebt, dass junge Männer sich und auch mich fragten: „Wie soll ich denn jetzt sein als Mann? Was wollt ihr Frauen denn jetzt eigentlich?” Verunsicherung ist meiner Meinung nach gar nichts Schlechtes. Nur Verunsicherung sorgt ja dafür, dass wir uns nicht einfach weiterhin in vorgefertigten Mustern bewegen. Gerade im Zusammenleben mit Kindern ist es unglaublich wertvoll, dass sie einen herausfordern, Dinge zu hinterfragen und einen auf einen selbst zurückwerfen. Kinder konfrontieren einen häufig mit der Frage, was man da gerade eigentlich tut. Sie sind ein toller Spiegel – wenn man die eigenen Aussagen plötzlich eins zu eins zurückgegeben bekommt, sind das schöne Gelegenheiten, das eigene Verhalten, Vorurteile und Klischees zu hinterfragen und zu überprüfen, ob das eigentlich stimmt, was man so von sich gibt.

Um das auf eine größere Ebene zu heben: Wir leben bekanntlich in Zeiten, in denen große Verunsicherung herrscht. Aber nur so kann etwas Neues entstehen, und wir haben die Wahl: Wir können alles geschehen lassen und abwarten – oder wir versuchen, die Prozesse zu steuern und zu gestalten.

 

Gleichzeitig sieht man auch, dass sich in Zeiten der Verunsicherung auch stark an Bekanntem und Vertrautem festgehalten wird.

Der Backlash, der sich derzeit etwa im Hass auf Frauen und auf weibliche gelesene Personen im Internet zeigt, findet nicht statt, weil Frauen leise sind. Er zeigt sich, weil sie sich vernehmbar äußern und weil das offenbar eine ganz große Verunsicherung und Verlustängste hervorruft bei denjenigen, die ihre Privilegien nicht als solche betrachten, sondern als naturgegebene Rechte. Daraus lässt sich Hoffnung schöpfen, weil es zeigt, dass wir mitten im Umbruch stecken. Aber diese Entwicklungen können ihrerseits Angst machen. Der Backlash ist ja nicht nur symbolisch, sondern bedroht ganz konkret Leben. Die Frage ist daher, ob man die Menschen, die sich vom Freiheitskampf anderer fundamental verunsichert fühlen, behutsamer behandeln sollte, statt an ihnen vorbeizupreschen. Es gibt für beides Argumente. Ich bin gemeinsam mit vielen anderen Feminist*innen sicher, dass die letzten Tage des Patriarchats angebrochen sind. Nur: Wie viele Tage das noch sein werden, weiß niemand.

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